Branchentalk der Fotoexperten

Wir haben einen Bildredakteur, eine Kunstwissenschaftlerin, einen Professor für Fotografie und die Geschäftsführerin einer Fotoagentur zu einem virtuellen Tisch geladen und mit ihnen über die Fotoszene von gestern, heute und morgen diskutiert.

Round Table Illustration

Unsere freie Autorin Jana Kühle bat zum fotografisches Quartett in Zeiten des Lockdown.

Illustration: © Getty Images

Vier renommierte Experten des deutschen Bildermarktes blicken auf die Fotoszene. Sie alle haben in Ihrem Beruf gerade den Staffelstab an die nächste Generation weitergereicht. Zeit für ein gemeinsames Resümee: Wie hat sich die Fotografie im Land entwickelt? Und wohin nun geht ihre Reise? Unsere Roundtable-Diskussion soll Raum für einen Rückblick und für Ausblicke bieten.  

Unsere Fotoexperten im Branchentalk

Moderation: Jana Kühle 

fotoMAGAZIN: Wie stark hat sich die Agenturarbeit in den vergangenen vier Jahrzehnten verändert, Frau Klingsporn?

Margot Klingsporn: Im Grunde überhaupt nicht. Es geht weiter darum, guten Kontakt zu guten Fotografen sowie zu den Kunden zu haben – und zu wissen, welche Kunden an welchen Themen interessiert sind. Ob zu analogen oder digitalen Zeiten: Es geht hauptsächlich um die Präsenz der Arbeit der Fotografen.

fotoMAGAZIN: Dennoch kann die Digitalisierung als die bisher radikalste Veränderung in der jüngeren Fotografiegeschichte betrachtet werden. Wie haben Sie den Wandel von der Analog- zur Digitalfotografie wahrgenommen?

Margot Klingsporn: Meiner Meinung wurde die massive Veränderung eingeleitet mit der Entwicklung der Kamera mit Motorantrieb. Fotografen haben nicht mehr geschaut, sondern nur noch draufgedrückt. Welche Unmengen von Filmen sind damals verschossen worden für ein einziges Bild! DAS war der große Schritt.

“Die einzig negative Perspektive ist der Preisverfall. Ich glaube, dass die Wertigkeit der Fotografie auf absehbare Zeit nicht steigen wird.“

Rolf Nobel

Rolf Nobel: Zu der Zeit, als Margot Klingsporn die Agentur „Focus“ groß gemacht hat, gab es vier Agenturen in Deutschland, die überdurchschnittlich gute Qualität in der Fotografie geliefert haben. Das waren „Bilderberg“, „Focus“,  „Visum“ und später auch „Laif“. Die Hürden, von einer solchen Agentur vertreten zu werden, waren sehr hoch.

Dann kam die Digitalisierung und plötzlich sind Fotografen ohne diese Agenturen in den Bildermarkt gekommen, weil digitale Plattformen es gegen ein paar Cent ermöglichten, Fotos anzubieten. Auf einmal fluteten Bilder von Amateuren und semi-professionellen Fotografen den Markt.

In meinen besten Zeiten habe ich jeden Monat 1200 Mark auf mein Konto bekommen – nur aus den Archiv-Verkäufen der Agentur. Der Fotograf Gerd Ludwig hat allein aus dem Archiv-Verkauf 6000 Mark im Monat erhalten – zusätzlich zum Honorar, das er für seine Aufträge bekam. Diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei.

Michael Biedowicz: Ich bin wie Frau Klingsporn der Meinung, dass der erste Schritt vor der Digitalisierung die Kamera mit Motorantrieb war. Ich würde sogar noch weiter zurückgehen. Als die Plattenkamera abgelöst wurde von der Leica, war das ein ganz großer Schritt für alle Fotografen. Mit der Beweglichkeit der Kleinbildkamera ist der Siegeszug der Fotografie überhaupt erst möglich gewesen.

Der Weg vom Analogen zum Digitalen war zunächst eine große Enttäuschung, weil die Digitalisierung erstmal schlechtere Bilder geliefert hat. Es gab keine Tiefe mehr. Dennoch waren alle Fotografen wild darauf, mitzumachen. Dort aber, wo die Qualität im Vordergrund stand – und dazu gehörte auch das „ZEITmagazin“ –, wurde eher gesagt: „Fotografiert wie ihr wollt, aber bitte bleibt bei eurer Qualität.“

Im Vergleich zum Mittelformat konnten die Bilder der Digitalkameras überhaupt nicht mit diesem Level mithalten. Natürlich ist der Prozess der Demokratisierung nicht zu unterschätzen. Es hat sich ein großer Bilderschatz angehäuft. Das hat den Redaktionen eine größere Auswahl gegeben. Jenseits von Verwertbarkeit habe ich das auch als Geschenk gesehen: Die Digitalisierung hat es jedem ermöglicht, an der Fotowelt teilzuhaben.

fotoMAGAZIN: Wenn wir die Bereiche Social Media oder technische Errungenschaften wie die Drohnenfotografie betrachten: Blicken Sie eher mit Freude oder Sorge auf den Wandel?

Michael Biedowicz: Wandel sollte einem nie Angst machen. Das Spektrum der Fotografie erweitert sich rasant. Ich sehe das als Modernisierungsschub. Hier öffnen sich ja neue Möglichkeiten. Natürlich ist auch viel Schrott dabei. Dazu gibt‘s dann Menschen wie Bildredakteure oder Galeristen, die ein bisschen Ordnung reinbringen oder Orte schaffen, an denen die Fotografie nicht nur als dienendes Element gefeiert und in ihrer Qualität wertgeschätzt wird.

Marlene Schnelle-Schneyder: Man gewinnt hier den Eindruck, dass die Fotografie nur aus dem Bildjournalismus bestünde. Das ist ohne Frage ein wichtiger Zweig, aber nicht der alleinige! Und was die Digitalisierung betrifft: Ich erinnere mich an einen Aufsatz in der „Züricher Zeitung“ über die Aussicht der Fotografie im digitalen Zeitalter. Man hatte den Eindruck, es fehlte eigentlich nur noch der Sarg, um die Fotografie zu beerdigen. Das war eine richtige Seinsfrage. In meinen Augen ist Fotografie eines der stillen Bildmedien.

Im Journalismus haben wir nur wenige Bilder, die für sich stehen. Es gibt ein breites Spektrum. Eine Frage, die Studenten und Lehrkräfte schon zu meinen Zeiten an der Hochschule beschäftigte, war die Frage „Kann Fotografie Kunst sein?“ Klaus Honnef hat in den 70er-Jahren versucht, das zu beweisen, indem er die Fotografie ins Museum holte – was revolutionär war. Mich hat von Anfang an gestört, dass die Fotografie auf die Dokumentation verkürzt wird.

“Der Kunstmarkt hat seine eigenen Gesetze.“

Marlene Schnelle-Schneyder

fotoMAGAZIN: Michael Biedowicz ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch im Fotojournalismus Fotografie nicht nur auf die reine Dokumentation heruntergebrochen wird. Mit Ihrer Galerie „pavlov‘s dog“ haben Sie den Schritt vom „ZEITmagazin“ in die Kunst gemacht. Wird die Fotografie immer mehr auch als Kunst gesehen?

Michael Biedowicz: Na klar. Das hängt mit dem Interesse der jüngeren Generation zusammen, die überhaupt keinen Unterschied macht zwischen Malerei oder einer anderen Technik. Der Zugang zur Fotografie in der Kunst ist irgendwie leichter – an diesem Medium können mehr teilnehmen. Bei der Malerei gibt‘s so eine Ehrfurcht, bei der Fotografie eher weniger. Das hat Vor- und Nachteile.

Jeder redet mit und keiner fühlt sich ausgeschlossen. Da ist die Fotografie ungeheuer beweglich und teilnahmefreudig. Meine Erfahrungen mit Ausstellungen waren gar nicht unter dem Label „Wir machen hier Kunst“, sondern vielmehr unter dem Label „Wir tauschen uns über Bilder aus“.

Ich hatte eine wunderbare Begegnung mit einer Frau, die sich ein Bild anschaute, während ich eine Ausstellung aufbaute. Plötzlich erzählte sie mir als fremdem Menschen von ihrer Kindheit, weil sie angeregt war von einem Bild. Das Bild hat etwas in ihr ausgelöst. Das war und ist für mich auch der Motor hinter dieser Galeriearbeit: dass man zusammenkommt, während das Bild sozusagen eine Mittlerrolle einnimmt.

Marlene Schnelle-Schneyder: Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ich die Fotografie in die Kunstrichtung schieben möchte. Wenn ich mich als Kunstwissenschaftlerin verstehe, dann weiß ich, dass unsere Zunft sich seit Langem darum drückt, zu definieren, was Kunst ist. Aber Herr Biedowicz hat es schon richtig erwähnt: Es geht ums Bild – nicht als Abbild, sondern in erster Linie ums Bild.

fotoMAGAZIN: Herr Nobel, wie kann ein Foto heute aus der Bilderflut noch herausstechen?

Rolf Nobel: Da gibt es natürlich Patentantworten, die ich in jeder Diskussionsrunde höre, wenn es um die Zukunft der Fotografie oder des Fotojournalismus geht: „Verschaff dir eine Handschrift, die einen hohen Wiedererkennungswert hat.“ Reflektieren Sie mal den Bildermarkt und überlegen Sie, wie viele Fotografen über eine unverwechselbare Handschrift verfügen. Es hat fast alles schon gegeben.

fotoMAGAZIN: Haben Sie dennoch Beispiele von Fotografen, die das schaffen?

Rolf Nobel: Da gibt es zum Beispiel Nikita Teryoshin. Seine erste bekannte Geschichte war die über Superkühe. Er blitzt seine Motive ganz massiv an. Oder auch seine Arbeit über Waffenbörsen und Waffenmessen. Dann seine Arbeit  über seine native Heimat, die er nie gesehen hat.

Oder schauen Sie sich die Russin Evgenia Arbugaeva an, die bekannt geworden ist mit Geschichten, die im hintersten Norden Russlands spielen, am Polarmeer. Sie begibt sich auf die Spuren ihrer eigenen Kindheit und hat es geschafft, einen eigenen Bildstil zu entwickeln, der durch eine gedeckte Farbigkeit auffällt und der mittlerweile von vielen jungen Fotografen imitiert wird.

Margot Klingsporn: Ich könnte noch die großen Namen anführen wie Salgado oder Annie Leibovitz, die auf Verknappung gesetzt haben. Sowohl Leibovitz als auch Salgado haben gesagt: „Meine Bilder landen nicht in Bilddatenbanken.“ Wer in Deutschland ein Bild von Salgado veröffentlichen möchte, muss bei mir anrufen und bekommt es eventuell, wenn der Kontext stimmt. Wenn Ihr Name bekannt ist, dann können Sie anfangen, den Markt zu kon- trollieren. Aber bis dahin ist es ein langer Weg.

Michael Biedowicz: Ich möchte noch etwas zum Begriff der Bilderflut sagen. Die Bilderflut ist meiner Meinung nach nicht groß genug! In den letzten Jahren beim „ZEITmagazin“ haben wir immer etwas gesucht und oftmals erst nach Tagen gefunden. Wer mir in letzter Zeit aufgefallen ist, das ist Robin Hinsch, ein Absolvent von mehreren Fotoschulen, der auch beim Deutschen Jugendfotopreis erfolgreich war. Robin geht dahin, wo es wehtut, wo in Nigeria beispielsweise die Ölleitungen explodieren. Es ist dieses Engagement, das weit über das Fotografische hinausgeht.

fotoMAGAZIN: Wie sieht es in der Kunstfotografie aus, Frau Schnelle-Schneyder?

Marlene Schnelle-Schneyder: Der Kunstmarkt hat seine eigenen Gesetze. Es ist ein Markt, der einzelne Leute hochbringt. Gucken Sie sich nur die Düsseldorfer Schule an, die mit Erfolg zu Preisen gehandelt wird, von denen ein Journalist nur träumen kann – was nichts über die Qualität aussagt, sondern darüber, dass sie zum richtigen Zeitpunkt einen Trend erkannt haben.

Ich weiß noch, was Thomas Ruff während eines Symposiums an der FH Dortmund erzählte: „Ich habe mal Bilder in der Größe 18 x 24 cm gemacht und kein Mensch wollte sie. Dann bin ich eben auf zwei Meter gegangen.“ Der Kunstmarkt ist darauf angesprungen. Wenn Sie heute die Tendenzen der fotografischen Archive verfolgen, dann ist das immer noch eine Frage der Aktivitäten der „Düsseldorfer Schule“. Die versucht natürlich, ihre Meterware zu verwahren. Aber der Kunstmarkt ist schwer mit dem Fotojournalismus zu vergleichen.

“Die meisten, die Fotografie studieren und sich der Kunst widmen, nagen am Hungertuch.“

Margot Klingsporn

Margot Klingsporn: Der Kunstmarkt und der journalistische Markt sind sehr wohl zu vergleichen, wenn es um Sachen Wertschätzung für Fotografie geht. Einige schaffen es, groß im Kunstmarkt unterzukommen. Die meisten aber, die Fotografie studieren und sich der Kunst widmen, nagen am Hungertuch.

fotoMAGAZIN: Wie können wir der Fotografie wieder zu mehr Wertschätzung verhelfen?

Michael Biedowicz: Ein Ausdruck der Wertschätzung ist beispielsweise die Wiedergabe des Fotografennamen. Beim „ZEITmagazin“ haben wir immer darauf geachtet, dass der Fotografenname gleichberechtigt neben dem des Schreibers steht. Dadurch lässt sich schon einiges korrigieren in der Wahrnehmung.

Rolf Nobel: Wenn wir von der Wertschätzung der Fotografie reden, dann kann es doch nur darum gehen, dass man die Leute, die Fotografie als ihren Beruf begreifen, auch so bezahlt, dass sie davon leben können. Der Kunstmarkt ist noch irrationaler. Im Journalismus wissen wir wenigstens, bei welchem Blatt man welches Honorar bekommt. Im Kunstmarkt sieht es anders aus. Deswegen geht es dem Gros der Künstler auch so unglaublich schlecht.

Marlene Schnelle-Schneyder: Ich bin im Grunde bei Ihnen. Aber der Kunstmarkt und die Wertschätzung dessen, was überlebt oder die Chance hat zu überleben, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Rolf Nobel: Wenn die Leute vor den Wänden meiner Galerie in Hannover stehen und „Ah und Oh“ zu den Bildern rufen, dann ist damit niemandem gedient.

Marlene Schnelle-Schneyder: Entschuldigen Sie, aber Sie werden doch nicht die Wertschätzung des Mediums an den Preisen abzählen können!

fotoMAGAZIN: Der Begriff des Wertes ist durchaus auch unter einem monetären Gesichtspunkt zu betrachten. Insbesondere in der pandemischen Zeit gibt es Fotografinnen und Fotografen, die ihren Job an den Nagel gehängt haben, weil sie jetzt merken: Es funktioniert nicht mehr.

Margot Klingsporn: Ja, es gibt viele Fotografen, die Hartz IV beantragt haben. Ich kenne allein drei, die sich zum Erzieher umschulen lassen. Sie wollen alle einen Beruf haben, der auch von der Gesellschaft gebraucht wird. Kunst wird auch gebraucht, Frau Dr. Schnelle-Schneyder. Ganz klar. Aber es ist zu viel vorhanden.

“Was mich in letzter Zeit umtreibt, ist die Tatsache, dass fotografisches Erbe einfach vernichtet wird.“

Michael Biedowicz

Marlene Schnelle-Schneyder: Richtig. Und es ist nicht definiert, was man darunter versteht. Es ist eine Tendenz zu beobachten, der ich völlig hilflos und fassungslos gegenüberstehe: Bilder, die im Fernsehen gezeigt und ständig von irgendeiner Musik begleitet werden. Nur die Nachrichten kann man noch ohne Musik konsumieren. Auch das ist für mich ein Kriterium der Wertschätzung.

Michael Biedowicz: Es geht auch um die Wertschätzung. Was mich in letzter Zeit umtreibt, ist die Tatsache, dass fotografisches Erbe einfach vernichtet wird, weil es keine Institution gibt, die dieses Erbe ernsthaft annehmen will. Die Sammlungen und Museen sind überfüllt. Es gibt keine Kapazitäten für den Archivankauf.

Die aktiven Fotografen des 20. Jahrhunderts sterben langsam weg und wenn wir Glück haben, nimmt ein Erbe ihre Bilder an. Manche aber wissen nichts damit anzufangen und es wird auf dem Flohmarkt verramscht oder weggeschmissen. Da müssen wir verschärft sagen: Lasst uns diesen Schatz bewahren!

Margot Klingsporn: Ich war da mit F. C. Gundlach über viele Jahre hinweg sehr aktiv. Gemeinsam haben wir mit der „Deutschen Fotothek“ in Dresden eine Institution geschaffen, die alle Nachlässe annimmt, die vom Sächsischen Wissenschaftsministerium finanziert wird. Es gibt also durchaus Einrichtungen, die sich um das fotografische Erbe kümmern.

Michael Biedowicz: Mir geht es auch nicht um die Kunstfotografie. Die hat es leichter, ins Museum zu kommen. Mir geht es um die engagierte, handwerklich orientierte Fotografie des 20. Jahrhunderts – was haben wir da für einen Bilderschatz! Wenn wir den Bilderschatz des 21. Jahrhunderts damit vergleichen, werden wir nur noch Selfies haben.

Die Kultur, die unsere Zeit geprägt hat, die ist nicht beispielhaft, um unsere Welt zu zeigen. Zwar ist die Menge an Bildern ungeheuer groß, aber das, was wir sehen, das ist sehr eindimensional. Die halbwegs guten Fotografen, die engagiert gearbeitet haben, die aber keinen Namen haben: Das ist die Art der Fotografie, die es auch gilt zu bewahren.

Rolf Nobel: Und da kann die „Deutsche Fotothek“ in Dresden nicht die Arbeit für die ganze Bundesrepublik leisten. In vielen Regionen Deutschlands schlummern Bilderschätze. Die Aufbereitung und die Archivierung müssen systemischer vonstatten gehen. Es müsste in jedem Bundesland eine Institution geben, die sich um die lokale Fotografie vor Ort bemüht, sprich: Sie sammelt, sie bereitet auf, sie archiviert und digitalisiert.

fotoMAGAZIN: Blicken Sie eher optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft des Mediums?

Margot Klingsporn: Die Fotografie oder Kunst spiegelt ja die Gesellschaft wider bzw. ahnt sie voraus, wenn sie gut ist. Unsere Gesellschaft ist sehr boulevardesk und das Boulevardeske wird noch zunehmen. Aber es wird Nischen mit inhaltsvollen Fotografien geben. Es wird bleiben, wie es ist.

Rolf Nobel: Ich sehe das genauso. Die einzige negative Perspektive, die die Fotografie betrifft, ist der Preisverfall. Ich glaube, dass die Wertigkeit in der Fotografie auf absehbare Zeit nicht steigen wird. Wir leben in einer bildorientierten Welt. Die Fotografie ist ein ganz wichtiges Medium und wird an Bedeutung nicht verlieren.

Es wird immer wieder Fotografen geben, die mit interessanter fotografischer Handschrift arbeiten, die interessante Geschichten ausgraben. Und ich glaube, dass der Siegeszug der Fotografie in der Kunst weiter vorangeht. Es werden jetzt schon auf dem Kunstmarkt Millionenbeträge für im Prinzip reproduzierbare Bilder gezahlt.

Marlene Schnelle-Schneyder: Ich vergleiche das sehr häufig mit der Malerei, deren Tod man schon zig Mal vorausgesagt hat. Und sie ist immer noch quicklebendig. Auch die Wertschätzung des Bildes wird sicherlich anhalten. Aber durch die Digitalisierung, die Smartphones und Phänomene wie Selfies droht das Bildermachen in eine Suppe zu fallen, die wir nicht mehr auslöffeln können.

Rolf Nobel: Die Handyfotografie ist einerseits natürlich ein Fluch. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass über die Handyfotografie viele Leute zur Fotografie finden. Sie entdecken den Spaß am Bildermachen. Die Galerien füllen sich nicht von allein. Wenn wir mit Schülern arbeiten, sehen wir, dass darüber auch das Interesse an besseren Bildern entsteht.

Michael Biedowicz: Wir leben in einer visuellen Kultur, die noch visueller wird. Wenn ich zurückblicke auf meine ersten Tage bei der ZEIT, kann ich nur sagen: Damals war es ein bilderfeindliches Medium. Man wurde schief angeguckt, wenn man etwas mit Bildern zu tun hatte. Heute lebt sie ganz stark vom Bild und vom visuellen Eindruck. Da ist innerhalb von 20 Jahren etwas passiert. Heute ist die Vorstellung absurd, eine Zeitung ohne Bild herauszugeben.

Was mir zu denken gibt – und ich weiß nicht, was es mit uns macht – ist die Tatsache, dass wir so viele Bilder haben, die nicht mehr geprintet werden. Wir haben auf den Bildschirmen und auf unseren Festplatten einen gigantischen Bilderschatz, der aber nur ein Datenschatz ist. Das fotografische Bild, das ich noch kenne, war immer ein Aufsichtsbild.

Der Prozess, aus einem Datensatz ein Bild zu produzieren, ist leider kompliziert geworden. Wer mal versucht hat, anständig und mit wenig Geld einen Inkjet-Print hinzubekommen, der scheitert. Man braucht immer mehr Technik und Hintergrundwissen. Es wird immer weniger praktiziert. Das heißt, die Fotografie verschwindet in einer Form von Physis und bleibt etwas Illuminiertes, auf dem Bildschirm Verhaftetes.

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Die Moderation dieses Gesprächs via Zoom-Konferenz führte unsere freie Mitarbeiterin Jana Kühle Mitte April 2021.

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