Der kontrovers diskutierte Dokumentarfilm „The Stringer: The Man Who Took The Photo“ ist ab sofort bei Netflix verfügbar.
© Netflix„The Stringer: The Man Who Took the Photo“ nimmt die Entstehung des ikonischen Fotos aus dem Jahr 1972 unter die Lupe und folgt einer zweijährigen Recherche des Fotojournalisten Gary Knight. Regisseur Bao Nguyen nutzt Archivmaterial, lässt Zeitzeugen und Experten zu Wort kommen und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen vietnamesischen Freelancer, dessen Rolle bisher weitgehend unbekannt geblieben war. Der Film, der Anfang 2025 beim Sundance Film Festival debütierte, wurde am 28. November 2025 weltweit auf Netflix veröffentlicht.
Was zeigt „The Stringer“?
Der Dokumentarfilm rekonstruiert die Szene eines Napalm-Angriffs bei Trang Bang und erzählt, wie das Foto der fliehenden, schwer verletzten Phan Thi Kim Phuc um die Welt ging. Dabei konzentriert sich der Film auf Nguyen Thanh Nghe, einen lokalen freien Fotografen („Stringer“), der erstmals öffentlich erklärt, er habe die Aufnahme gemacht. Parallel zeigt die Doku, wie Knight alte Kontakte besucht, Archive durchsucht und verschiedene Erzählungen miteinander vergleicht.
Welche Behauptungen stellt der Film auf?
Der Film vertritt die These, das berühmte Foto sei nicht vom AP-Fotografen Nick Ut entstanden, sondern von Nghe. Nach Aussage eines früheren AP-Redakteurs habe die Bildredaktion das Foto damals dennoch Ut zugeschrieben, weil er als festangestellter Fotograf zuverlässig verfügbar war und stärker im amerikanischen Mediennetzwerk verankert war. Mehrere Interviews im Film deuten an, dass Stringer wie Nghe oft im Hintergrund blieben – selbst dann, wenn ihre Arbeit zentral war.
Welche Indizien präsentiert die Macher von „The Stringer“?
Die Dokumentation zeigt verschiedene Hinweise, die die alternative Urheberschaft stützen sollen:
- Aussagen von Menschen, die sich an Nghe als Fotograf erinnern.
- Auswertungen von Bildserien, die Perspektiven und Abstände vergleichen.
- Archivdokumente, die nahelegen, dass frühe Versionen des Fotos von Nghe stammten.
- Gespräche mit früheren AP-Mitarbeitern, die über interne Entscheidungswege berichten.
Diese Indizien ergeben ein mögliches Szenario, liefern aber keinen endgültigen Nachweis. Die Doku überlässt die Bewertung bewusst dem Publikum.
Warum wird „The Stringer“ kontrovers diskutiert?
Die Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus. Die Associated Press weist die Vorwürfe entschieden zurück und betont, ihre eigene Untersuchung habe Nick Ut eindeutig als Fotografen bestätigt. Auch Kim Phuc unterstützt diese Darstellung. Kritiker monieren zudem, der Film präsentiere seine These sehr offensiv und blende gegenteilige Aussagen zu stark aus. Befürworter sehen darin jedoch einen wichtigen Anstoß, die Geschichte lokaler Fotografen im Vietnamkrieg differenzierter zu betrachten.
Wie beurteilt die Öffentlichkeit den Film?
Viele Kritiker loben die sorgfältige Recherche und die offene Erzählweise. Sie heben hervor, wie deutlich der Film zeigt, dass historische Ereignisse oft aus mehreren Blickwinkeln rekonstruiert werden – und wie schnell redaktionelle Entscheidungen die Bewertung von Bildmaterial beeinflussen können. Andere warnen vor einer möglichen Verzerrung, da der Film zwar Hinweise sammelt, aber nicht immer eine ausgewogene Gegenüberstellung bietet.
Erkenntnisse aus der AP-Untersuchung
Die Associated Press reagierte auf die im Film erhobenen Vorwürfe mit einer eigenen, mehrmonatigen Untersuchung. Demnach gebe es weiterhin keine überzeugenden Belege dafür, dass jemand anderes als Nick Ut das Foto aufgenommen habe. Die technische Analyse ergab jedoch, dass die Aufnahme sehr wahrscheinlich mit einer Pentax-Kamera entstand – ein Hinweis, der die Darstellung von Nguyen Thanh Nghe stützt, der mit einer Pentax gearbeitet hat. Ut wiederum erklärte gegenüber AP, er habe neben seinen Leica- und Nikon-Modellen auch eine Pentax bei sich geführt, ein Erbstück seines im Krieg gefallenen Bruders; diese Aussage bestätigte seine Schwägerin.
Zudem tauchte zuvor unveröffentlichtes Filmmaterial des US-Senders NBC auf, in dem der vietnamesische Militärfotograf Huynh Cong Phuc in unmittelbarer Nähe jener Position zu sehen ist, von der aus das Foto entstanden sein muss. Laut AP widerspricht dieses Material der im Film behaupteten Annahme, nur Nghe sei am richtigen Standort gewesen. Auch die im Film dargestellte Distanz eines potenziell als Ut identifizierten Fotografen sei ungenau: Statt 60 Metern rekonstruiert der AP-Bericht lediglich 30 bis 50 Meter Abstand. Associated Press sah nach der Untersuchung keinen Anlass, Nick Ut die Urheberschaft an „The Terror of War“ abzusprechen. World Press Photo jedoch setzte angesichts der widersprüchlichen Befunde seine Urheber-Nennung vorerst aus.
Welche Bedeutung hat die Debatte für die Fotogeschichte?
Das Foto „The Terror of War“ gilt als Schlüsseldokument des Vietnamkriegs. Auch wenn der Film „The Stringer: The Man Who Took the Photo“ die endgültige Auflösung über die Entstehung des Fotos nicht liefert, stößt er Diskussionen an und stellt grundlegende Fragen über Praktiken des Fotojournalismus. Wie entstehen Zuschreibungen? Welche Macht haben Archive? Wie sichtbar und gleichberechtigt sind lokale Fotografinnen und Fotografen? Der Film zeigt, dass selbst fest verankerte historische Überzeugungen ins Rutschen geraten können, wenn neue Stimmen und Dokumente auftauchen.
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