Stephen Shore

Erst Wunderkind der Fotokunst, dann Pionier der New Color Photography: Stephen Shore hat mit seinen Farbaufnahmen einen anderen Blick auf den US-Alltag ausgelotet und mit Großbildtechnik der Fotografie neues ästhetisches Terrain geöffnet. Zur Verleihung des DGPh-Kulturpreises 2010 gewährte uns Shore ein exklusives Interview.

Manfred Zollner

Manfred Zollner

Chefredakteur fotoMAGAZIN

Stephen Shore

Stephen Shore

Foto: © Carlos Lopes

fotoMAGAZIN: Bereits als 14-Jähriger haben Sie 1961 Prints an Edward Steichen verkauft, dem Fotografen und Kurator des Museum of Modern Art in New York. Wie kam es dazu?
Stephen Shore: Ich hatte mir nichts dabei gedacht und ihn einfach angerufen. Ich wusste nicht, dass man Steichen nicht einfach so anrief.

fM: Mit 24 Jahren bekamen Sie dann Ihre erste Einzelausstellung im Metropolitan Museum of Art. Wie bleibt man nach solch einem Start auf dem Boden?
Shore: Es ist eine sehr interessante Erfahrung, wenn Deine Träume in Erfüllung gehen. Ich glaube, das hatte mehrere Auswirkungen: Es ließ mich neu darüber nachdenken, was ich in der Fotografie machte. Es brachte meine bisherige Arbeit zu einem Endpunkt. Und es entspannte mich! Es konnte von hier nur abwärts gehen und so konnte ich tun, was mich interessierte. Das könnte mir die Freiheit verschafft haben, eine Arbeit wie American Surfaces anzupacken.

fM: Ich hatte mich gefragt, ob Sie das wohl mutiger gemacht hat...
Shore: Nicht, weil ich mich jetzt besser gefühlt hätte, sondern weil mir bewusst wurde, dass das nicht alles ist. Es macht dich für ein bis zwei Tage glücklich, aber es macht Dich nicht zu einer perfekteren Person. Du bekommst Anerkennung und am nächsten Morgen geht dein Leben weiter.

fM: Sind Sie in der Folge in eine innere Leere gefallen?
Shore: Oh ja.

fM: Wie lange hat das angehalten?
Shore: Kein ganzes Jahr, aber in dem Jahr habe ich einen radikalen Neuanfang gefunden und bin in eine neue Richtung gegangen.

„Ich habe viel gelernt, indem ich Musik von Bach hörte.“

Stephen Shore, Fotograf

fM: Früh in Ihrer Karriere sind beide Eltern verstorben. Das müsste etwa zur gleichen Zeit passiert sein. So werden Sie mit einer weiteren inneren Leere konfrontiert worden sein. Hatte das einen Effekt auf Ihre Fotografie?
Shore: Es gab sogar noch eine dritte Leere: Meine Mutter starb im Dezember 1973. Mein Vater brach zusammen, als sie starb. Ein Jahr später starb auch er. In dem Jahr, in dem sein Leben auseinander fiel, verlor er sein ganzes Geld. Es gab also drei Schocks.

fM: Also auch ein finanzieller Schock!
Shore: Auch dieser war signifikant. Mein Vater starb 1974. Damals hatte ich einen Zahnarzt mit Zusatzabschluss in Psychologie. Er interessierte sich für psychosomatische Schmerzen.

Ich kam in seine Praxis mit Zahnschmerzen und er fragte, wie es mir ginge. So erzählte ich ihm von meinem harten Jahr. Er sagte daraufhin: Wissen Sie, es gibt viele, die behaupten, Du seist nie ganz Du selbst, bevor Deine Eltern sterben. Er sagte das ganz sachlich. Es war genau das Richtige.

fM: Haben Sie um diese Zeit beschlossen, dass Sie mehr reisen wollten?
Shore: Damit hatte ich schon vorher begonnen, weil ich Ende der 60er-Jahre Freunde hatte, die in Amarillo/Texas lebten. Als ich nach Amarillo reiste, war ich das erste Mal wirklich mitten in Amerika. Ich liebte es.

Das führte zu dem Wunsch, in ein Auto zu steigen und loszufahren. Ein Trip wie American Surfaces war mein erster, den ich wirklich für ein paar Monate allein ins Land unternommen hatte, Jahre bevor meine Eltern starben.

El Paso Street

El Paso Street, 1975

Foto: © Stephen Shore

Religion, Philosophie & Musik

fM: In Ihrem Buch The Nature of Photographs gibt es ein einziges Bild, das kein Foto, sondern eine japanische Radierung ist. Inwieweit ist Ihre Arbeit von Dingen wie asiatischer Philosophie, Malerei oder etwa der Zen-Kultur beeinflusst?
Shore: Als ich aufwuchs, war ich hungrig nach allen Formen künstlerischen Ausdrucks. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum ich von der Highschool geflogen bin. Sie schränkte mich zu sehr ein. Als ich so mit 16 Jahren von der Schule flog, begann ich mich für das Temporary Theater zu interessieren. Ich las alles, was ich in die Finger bekam. Mich interessierte auch der Film, ich sah zwei Filme am Tag.

Ich verbrachte viel Zeit im Metropolitan Museum of Art, sah mir Werke aller Kulturen an. Noch heute bin ich stolzer Besitzer eines japanischen Sumi-Gemäldes von einem Meister des 17. Jahrhunderts. Mich interessierte auch die Musik. Ich bekam damals einen Job bei einem Orchester, das sich auf barocke und klassische Musik spezialisierte.

fM: Wie sieht es mit der Zen-Kunst aus?
Shore: Ich habe darüber gelesen, aber nie Zen praktiziert. Ich bin in einem reformierten jüdischen Haushalt aufgewachsen, was in New York fast gleichbedeutend mit Atheismus war. Mich interessierten diese Ideen, aber mich hat es immer mehr zu westlichen und nahöstlichen Ansätzen hingezogen. Mehrere Jahre interessierte ich mich für die Kunst des Suffismus.

fM: Aus einem speziellen Grund?
Shore: Ja. Mich als Fotograf interessiert, die Welt in einem Zustand erhöhten Bewusstseins zu sehen. Am Suffismus mochte ich, dass es hier darum ging, dass man sich und seine Reaktionen in der Welt prüfte. In letzter Zeit bin ich zum Judentum zurückgekommen. Da gibt es den Begriff Kavana, was im Wesentlichen Bewusstsein heißt. Auch hier wird dies innerhalb der Welt begriffen, nicht bei einem Rückzug aus der Welt.

fM: Wieviel musikalische Komposition steckt in Ihren Bildern?
Shore: Ich habe viel gelernt, indem ich Musik von Bach hörte. Mit 15 fing ich an, ihm richtig Aufmerksamkeit zu schenken. Ich merke, dass ich nach fast 50 Jahren immer wieder zurück zu Bach komme.

fM: Religion, Philosophie, Musik führte all das schließlich zu Ihrem Fokus auf die Landschaft?
Shore: Lassen Sie mich erzählen, wo ich den Bezug sehe. In den Siebzigern, während der Zeit von Uncommon Places stellten sich mir diese Fragen zur Fotografie. Während ich einem Thema folgte, kam plötzlich eine neue Frage auf. Das ging bis Ende der Siebziger so, dann hörten die Fragen auf.

Nur eine blieb offen: Ab und zu hatte ich ein Foto gesehen, das die Illusion eines dreidimensionalen Raums vermittelte. Jahrelang hatte ich mich gefragt, wie ich so etwas erreichen könnte. Ich brauchte etwa zehn Jahre, bis ich lernte, wie man es macht.

Es hat mit etwas zu tun, das in der Sportpsychologie Imaging genannt wird. Bei Athleten auf olympischen Level setzt man physische Fähigkeiten voraus. Hier wird Imaging eingesetzt.

Basketballspieler üben Sprünge. Versuchten sie, alle Muskelaktivitäten bewusst zu koordinieren, dann würden sie den Ball nie in den Korb bekommen. Wenn sie aber ein starkes Bild des Balls, der in den Korb fliegt vor ihrem geistigen Auge haben, dann wird dieses Bild ihre muskulären Aktivitäten koordinieren.

Ich habe gelernt, dass es Ähnliches in der Fotografie gibt. Hier kommt der Bezug zur spirituellen Disziplin. Es bedeutete, dass ich meinen Gedankenprozess kontrollierte, dass ich die Kontrolle über mein mentales Bild haben musste.

„Meine Frau und ich verbrachten unsere Flitterwochen mit Angeln.“

Stephen Shore, Fotograf

fM: Sie sagten, es sei nur eine Frage übrig geblieben. Sind damit jetzt alle gelöst?
Shore: Danach passierten zwei Dinge. Zum einen stellte ich mir künstlich immer neue Probleme. Etwa: Kann ich Street Photography in New York mit einer 8x10-Kamera machen?

Und noch etwas passierte: Ich lernte bei der Landschaft eine ganz subtile Art, ein Bild zu kontrollieren. Ich erforschte das bei der Landschaft, weil ich all die physisch-strukturellen Ablenkungen vermeiden wollte; keine Gebäude und Telefonleitungen. Bei einem Landschaftsbild gibt es nur offenes Land. Konnte ich dieses Verständnis eines subtil kontrollierten Bildes in Situationen mitten im visuell komplexeren kulturellen Raum bringen? So ging ich jetzt zurück in die Zivilisation.

Post Falls, 1974

Post Falls, 1974

Foto: © Stephen Shore

fM: Sie haben eine Ähnlichkeit zwischen Forellenangeln und der Fotografie gefunden. Wie kam es dazu?
Shore: Ich fing Ende der Siebziger mit dem Angeln an. Gemeinsam mit Freunden hatte ich eine kleine Farm in den Catskills. Meine Frau war Anglerin und als sie uns zum ersten Mal dort besuchte, kannte sie den Ruf dieses Gewässers. Dann fingen wir an zu angeln und es hat für eine Weile unser Leben bestimmt. Wir wurden richtig fanatisch und verbrachten unsere Flitterwochen mit Angeln. Drei Monate in Montana und ein wenig in Wyoming!

fM: Hat das Angeln Ihre Fähigkeit zu Fokussieren trainiert?
Shore: Ja. Und es gab mir einen Bezug zur Landschaft. Das war kurz bevor ich mit der Landschaftsfotografie anfing. Also gibt es da eine Verbindung.

Ich lebte in Montana, umgeben von dieser zauberhaften Landschaft. Als ich dort hinzog, hatte ich nichts Brauchbares über diese Landschaft zu sagen. Es gab keine Wahrnehmung. So fing ich mit den Landschaften erst an, nachdem ich schon zwei Jahre dort gelebt hatte.

Durch das Angeln, Wandern, den Skilanglauf habe ich ein anderes Gefühl für das Land bekommen. Dazu kam die Wahrnehmung dazu und die Frage, wie man Kontrolle über den Raum im Bild hat. Und der geistige Fokus, den das Fliegenfischen erfordert.

Stephen Shores Abkehr von der visuellen Konvention

fM: Heute erscheint vieles in Ihren frühen Farbbildern vertraut, doch als Sie loszogen, fanden Sie eine völlig neue Sichtweise auf Alltägliches. Es scheint, als ob Sie einen Schritt weg von der allgemeinen Perspektive gemacht hätten, um etwas anderes zu sehen. Kann man das trainieren?
Shore: Gewissermaßen. Als ich American Surfaces fotografierte, war meine Absicht, Bilder zu machen, die sich nicht wie durch visuelle Konventionen vermittelt anfühlten.

Die visuelle Konvention hat in der Fotografie zwei Aspekte:
1. Was fotografierst Du? Was sind die akzeptierten Sujets?
2. Wie fotografierst Du es? Wie strukturierst Du das Bild?

Ich machte das so: Zu ganz willkürlichen Momenten machte ich mir bewusst, was ich gerade sah, wie meine Seherfahrung war. Das geht zurück zu der Idee des offenen Bewusstseins.

Haben wir diese Aufmerksamkeit nur, wenn wir in einem stillen Raum sitzen, oder können wir auch in einem Fahrstuhl aufmerksam bleiben? So achtete ich bewusst darauf, wie es ist, den ganzen Tag zu sehen. Es ging darum, wie ich den Alltag betrachtete und welche Erfahrung das war.

fM: Dafür haben Sie die Sprache von Licht und Farbe gelernt. Sie haben sich dieses Wissen selbst angeeignet. Was haben Sie gelernt?
Shore: Das mag an diesen Prozess geknüpft sein, den ich eben beschrieben habe. Am Anfang von American Surfaces stand die Frage: Wie ist das, etwas zu sehen? Sie ließ mich darüber nachdenken, wie Bilder strukturiert sind.

Was ist eine kulturelle Konvention? Wie unterscheidet sie sich von der tatsächlichen Erfahrung des Sehens? Und kann ich ein Bild machen, das der echten Seherfahrung ähnelt?

Dann sind da noch einige instinktive Dinge. Ich habe einen Sinn für Farben und Balance im Bild, die ich beim Betrachten aus einem bestimmten Winkel so sehe, dass alles ein wenig off erscheint, nicht so aufgehübscht. Irgendwie sieht alles ausgewogen aus.

Stephen Shore

Stephen Shore. Geboren am 8. Oktober 1942 in New York; Mit W. Eggleston wichtigster Vertreter der New Color Photography, der u. a. mit Uncommon Places und American Surfaces die Farbfotografie als Medium der Fotokunst etablierte und dabei den Alltag in den Fokus rückte.

Erste eigene Dunkelkammer mit sechs Jahren; 1970 Workshop bei Minor White; 1971 erste Einzelausstellung eines lebenden Fotografen im Metropolitan Museum of Art; 1975 Guggenheim Stipendium und Teilnahme bei der New Topographics-Ausstellung.

DGPh-Kulturpreisträger 2010: Am 11. September 2010 hat Stephen Shore in Düsseldorf den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) für sein ikonisches Schaffen, das international mehrere Fotografengenerationen geprägt hat, überreicht bekommen.

Bis 16. Januar 2011 zeigte das Düsseldorfer NRW Forum für Kultur und Wirtschaft die Ausstellung Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie zu der Werner Lippert und Christoph Schaden einen wunderbaren Katalog (33 Euro) herausgegeben haben.

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