Michael Kenna

Wir sprachen mit dem britischen Landschaftsfotografen über Lieblings-Locations, das Überraschende des Analogen und seine minimalistische Bildkompositionen.

Manfred Zollner

Manfred Zollner

Chefredakteur fotoMAGAZIN

Fotograf Michael Kenna

Der britische Fotograf Michael Kenna hat sein Bildarchiv Frankreich übergeben.

Foto: © Matteo Colla

Auf der Kunstmesse Paris Photo hat Frankreichs Kulturministerin Rima Abdul-Malak im November 2022 die Schenkung von Michael Kennas Fotoarchiv bekanntgegeben, das künftig vom französischen Staat in der „Médiathèque du Patrimoine et de la Photographie“ (MPP) untergebracht wird. Diese Schenkung umfasst unter anderem 3683 Original-Silbergelatineabzüge von Aufnahmen aus 43 Ländern mit den dazugehörigen Negativen und Scans, 175.000 weitere Negative mit Kontaktbögen und 1280 Polaroid-Prints.

Wir haben den 69-jährigen Meister der Landschaftsfotografie um ein ausführliches Interview über seine Werke gebeten.

fotoMAGAZIN: Sie hatten sicher mehrere Optionen für den künftigen Verbleib Ihres Bildarchivs, Herr Kenna. Warum haben Sie sich entschieden, dieses Archiv im November 2022 dem französischen Staat zu übergeben und nicht beispielsweise einer englischen Institution?
Michael Kenna: Meine erste Antwort darauf könnte schlicht und einfach sein, dass Frankreich mich gefragt hat. Natürlich ist der Fall aber etwas komplizierter. Warum also die „Médiathèque du Patrimoine et de la Photographie“ (MPP) in Frankreich? Objektiv betrachtet ist Frankreich das Land, in dem ich in meiner fünfzigjährigen Karriere am meisten fotografiert habe. In meiner Schenkung befinden sich mehr Fotografien aus Frankreich als aus jedem anderen Land. 300 Abzüge und 6.000 Negative aus dem Konzentrationslager-Projekt (1988-2000) habe ich Frankreich bereits vor über zwei Jahrzehnten überlassen. Jetzt war es mir wichtig, dass sich mein gesamtes Archiv an einem Ort befindet – und es ist sehr beruhigend zu wissen, dass mein Werk nun neben den Arbeiten von Fotografen sein wird, die ich liebe und bewundere, Fotografen wie Jacques-Henri Lartigue, André Kertész und Willy Ronis. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass meine Tochter, mein Schwiegersohn und meine Enkeltochter in Frankreich leben. Ich bin sehr dankbar, dass das MPP mein Archiv angenommen hat und, wie ich hoffe, dazu beitragen wird, es vor dem Zahn der Zeit zu schützen.

Ich möchte betonen, dass ich die vollständige und uneingeschränkte Nutzung meiner Negative und alle Nutzungsrechte behalte, so lange ich lebe. Die Negative werden erst nach meinem Tod übergeben. In vielerlei Hinsicht hat sich also für mich nichts geändert, außer dass ich nun die Gewissheit habe, dass ich meinen Erben später keinen großen, ungeordneten Berg von Abzügen und Negativen hinterlassen werde. Für die absehbare Zukunft hoffe und vertraue ich darauf, dass alles „Business as usual“ bleiben wird.

fotoMAGAZIN: Sie werden in diesem Jahr Siebzig. War dieser bevorstehende Geburtstag für Sie der Ausgangspunkt, um eine Entscheidung zum Verbleib Ihrer Bilder zu treffen?
Michael Kenna: Siebzig! Erstaunlich – wo ist nur die Zeit geblieben? Ich denke, dass sowohl das Alter als auch die Pandemie meine Entscheidung beeinflusst haben, die Planung meines Nachlasses jetzt zu regeln und nicht zu warten, wenn es vielleicht zu spät sein könnte.

fotoMAGAZIN: Haben Sie in den kommenden Jahren Einfluss auf die wissenschaftliche Erforschung und öffentliche Präsentation?
Michael Kenna: Zu Lebzeiten habe ich noch völlige Verfügungsfreiheit über mein gesamtes Werk. Nach meinem Tod werden dann nach und nach die verschiedenen Nutzungsrechte von der MPP übernommen. Da das MPP eine staatliche Einrichtung ist kann mein Werk nie aus diesem Besitz genommen, übertragen oder anderweitig entsorgt werden. Das finde ich beruhigend in Anbetracht der schrecklichen Archivgeschichten, die man mir erzählt hat!

Huangshan-Mountains im Nebel

Huangshan Mountains, Anhui, China (2009).

Foto: © Michael Kenna

fotoMAGAZIN: Sie bereisen seit Jahrzehnten die Welt und haben die erstaunlichsten Landschaften fotografiert. Was sind Ihre fünf Lieblingsorte, an die Sie immer wieder zurückkehren werden?
Michael Kenna: Es ist schwierig, hier Favoriten zu nennen, doch wahrscheinlich würden Japan, Frankreich und Italien zu diesen fünf Ländern gehören. Ich glaube an das Prinzip des Energieaustauschs in jeder Art von Beziehung. Wenn wir auf etwas oder jemanden treffen, haben wir einen Einfluss darauf und werden im Gegenzug beeinflusst. Egal in welchem Land ich mich gerade befinde: Es wäre für mich unmöglich, mich dort nicht anzupassen. Mein Respekt würde das verlangen.

„Ich glaube an das Prinzip des Energieaustauschs in jeder Art von Beziehung. Wenn wir auf etwas oder jemanden treffen, haben wir einen Einfluss darauf und werden im Gegenzug beeinflusst.“

Michael Kenna

fotoMAGAZIN: Haben sich diese Orte unter dem Einfluss des Massentourismus stark verändert?
Michael Kenna: Der Massentourismus scheint ganz viele Orte verändert zu haben. Die meisten Aufnahmen werden heute digital fotografiert und oft gibt es ein Profil in den Bilddaten die uns zeigen, wo sie gemacht wurden. Der Fototourismus ist ein einträgliches Geschäft, so dass sich viele Amateur- und selbst Profifotografen gerne die Zeit und Mühe sparen und auf den Spuren anderer Fotografen folgen.

fotoMAGAZIN: Was sagt Ihnen der Begriff Heimat?
Michael Kenna: Heimat ist für mich der Ort, an dem ich mit meiner Frau und meiner Familie lebe und in meinem Studio und meiner Dunkelkammer hier in Seattle arbeite. Ich lebe nun bereits länger in den USA als irgendwo sonst in der Welt. Es ist immer gut, eine stabile Basis zu haben, von der aus man erkunden und zurückkehren kann. Heimat kann jedoch ein viel umfassenderes Konzept sein und das ist nicht so einfach zu definieren. Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich in England zur Welt gekommen und aufgewachsen und habe dort immer noch eine große Familie, also ist das Land sicher auch eine Heimat. Ich fotografiere und reise zudem in viele Ländern, vor allem nach Frankreich, wo ich auch Familie habe, und nach Japan, so dass ich mich auch in anderen Ländern zu Hause fühle.

Huangshan Mountains

Huangshan Mountains (2008).

Foto: © Michael Kenna

fotoMAGAZIN: In einem Interview haben Sie 2019 für die analoge Fotografie plädiert: „Ich bevorzuge die Langsamkeit, die Unvorhersehbarkeit, die Komplikationen." Fehlt der heutigen digitalen Fotografie zu sehr der Überraschungsmoment, ist sie zu steril? Und wenn ja: Warum?
Michael Kenna: Ich glaube, wir verstricken uns manchmal in Definitions- und Rationalisierungsversuche, die weder notwendig noch wirklich hilfreich sind. Die Fotografie deckt viele sehr unterschiedliche Interessenbereiche ab, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Beispielsweise ist es für mich ganz wunderbar, wenn ich mit dem Handy ein Foto von einem Kindergeburtstag mache und es sofort per E-Mail über tausende Kilometern an einen weit entfernten Ort schicken kann. Wie kann man die Freude des Empfängers eines solchen Fotos mit den Empfindungen vergleichen, die Museumsbesucher beim Betrachten eines hundert Jahre alten Platin- oder Silberabzugs haben? Beide Erfahrungen haben mit Fotografie zu tun, doch sie lassen sich kaum vergleichen. Wir alle entscheiden, wie und warum wir die Fotografie nutzen. Veränderungen sind normal. Ein Bild auf meinem Handy ein paar Sekunden lang zu betrachten und einen feinen Original-Silberabzug zu studieren, sind ganz unterschiedliche, wenn auch verwandte Erfahrungen. Jedes hat seine eigene Persönlichkeit und sollte gefeiert werden.

„Die Fotografie deckt viele sehr unterschiedliche Interessenbereiche ab, die sich nicht gegenseitig ausschließen.“

Michael Kenna

Es steht mir sicher nicht zu, ein anderes Medium zu kritisieren. Ich kann nur mein eigenes Interesse am analogen Medium zum Ausdruck bringen. Ich freue mich, dass die Fertigkeiten und Traditionen der Abzüge in der Dunkelkammer weitergegeben wurden. Aus ganz egoistischem Interesse würde es mich freuen, wenn die Film- und Papierhersteller im Geschäft blieben! Ich denke, dass es für Uneingeweihte schwierig sein muss, all das wirklich zu würdigen, was in einen Silbergelatine-Print einfließt –  mit all den Nuancen, die jeden Abzug so einzigartig machen. Ich habe nichts gegen andere Printarten, jeder soll da seine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe mein Herz noch an keinen Digitaldruck verloren, bin aber sicher, dass das mehr über mich aussagt als über die Prints!

Nachtaufnahme in Lnacashire

Pont des arts (Brücke der Künste).

Foto: © Michael Kenna

fotoMAGAZIN: Sie haben sich schon immer für die Analogfotografie begeistert. Haben Sie jedoch eine Erklärung für den aktuellen Trend zum Analogen – vor allem bei jüngeren Fotografen?
Michael Kenna: Vor kurzem habe ich an einer Podiumsdiskussion mit der Künstlerin Kunie Sugiura teilgenommen, die feststellte, dass digital elektronisch und analog chemisch sei. Sie meinte, dass wir als Menschen unweigerlich zur Chemie zurückkehren würden. Ich habe das Gefühl, dass die digitale Technik so perfekt, unmittelbar und einfach zu bedienen ist, dass uns etwas von der Magie und dem Geheimnis des Unbekannten und Unvorhersehbaren verloren geht. Wenn wir ein Live-Konzert, bei dem jederzeit etwas schief gehen kann, mit einer voraufgezeichneten und bearbeiteten Variante derselben Musik vergleichen, könnten wir interessante Vergleiche ziehen. Beide haben ihre Berechtigung, aber ich liebe das Lebendige der Live-Version. Perfektion ist manchmal nicht ganz befriedigend. Ich arbeite ausschließlich mit Analogfilm und printe vom Originalnegativ. Ich verbringe viele Stunden mit der Arbeit in der Dunkelkammer und liebe das. Manchmal fühle ich mich wie ein Bildhauer, der versucht, die verborgene Figur im Inneren des Steinblocks zu finden und herauszuholen. Das Abwedeln, Zuschneiden und Spielen mit Kontrastfiltern macht mir so viel Spaß, obwohl das oft harte Arbeit ist. Ich genieße alle Schritte dieser langen, geduldzehrenden und unvorhersehbaren Reise, die damit beginnt, draußen die Motive zu suchen und damit endet, diese herauszuarbeiten. Alle meine Abzüge werden dezent sepia getönt, aufgezogen, von Hand retuschiert, betitelt, gestempelt, nummeriert etc., bevor ich sie rausgebe.

„Ich habe das Gefühl, dass die digitale Technik so perfekt, unmittelbar und einfach zu bedienen ist, dass uns etwas von der Magie und dem Geheimnis des Unbekannten und Unvorhersehbaren verloren geht.“

Michael Kenna

Für Digitalfotografen kann es vermutlich etwas frustrierend sein, sich jetzt an das Silbergelatine-Verfahren heran zu wagen. Es ist gewöhnungsbedürftig und viel zu lernen. Der lange Weg zum fertigen Abzug ist voller unerwarteter Wendungen, die meiner Meinung nach der Kreativität enorm förderlich sind. Aber es ist nicht jedermanns Sache!

fotoMAGAZIN: Wie kam es dazu, dass Sie mit den Holga-Toy Cameras zu experimentieren begannen?
Michael Kenna: Die Kamera ist nur eine Maschine, die Ihnen hilft, eine Vision zu verwirklichen. So wie ein Bleistift nicht die Arbeit eines Buchhalters, Architekten oder Künstlers definiert, so definiert eine Kamera auch nicht die Arbeit eines Fotografen. Jeder Fotograf hat die Möglichkeit, seinen eigenen Verstand, seine Erfahrung, seine Biografie, seine persönlichen Neigungen usw. einzusetzen, um ganz eigene, einzigartige Bilder zu schaffen. Ich glaube, dass man mit jeder Kamera großartige Bilder machen kann. Wir alle wählen unser eigenes Equipment, aber das ist kaum die wichtigste Entscheidung im ganzen kreativen Prozess.

In den ersten zehn Jahren meiner fotografischen Tätigkeit habe ich hauptsächlich mit 35-mm-Equipment gearbeitet. Seit Mitte der Achtzigerjahre arbeite ich bevorzugt mit einer Hasselblad und 120er-Mittelformatfilm. Meine andere nützliche Kamera, die Sie gerade erwähnt haben, ist die preiswerte Holga aus Plastik, die ich oft in meiner Tasche mitnehme, wenn ich den Rucksack und das Stativ nicht dabeihabe. Die Holga ist leicht und einfach zu bedienen. Sie ist unberechenbar, fehlerhaft und ungenau. Es kommt auf den Bildern häufig zu Streulicht. Ich klebe meine Holgas mit Klebeband ab, und das entstandene Bild kann durchaus unscharf sein. Die Aufnahmen sind nicht immer so, wie man sie sich vorgestellt hatte. Holga-Kameras sind unkontrollierbar – und das ist etwas, das ich genieße und zu schätzen weiß. Wenn ich sie 100 % der Zeit einsetzen müsste, wäre ich vielleicht etwas frustriert. Doch bei der gelegentlichen Arbeit mit ihnen bringen sie frischen Wind mit.

„Holga-Kameras sind unkontrollierbar – und das ist etwas, das ich genieße und zu schätzen weiß.“

Michael Kenna, Fotograf

fotoMAGAZIN: Wie hat die japanische/chinesische Philosophie Ihre Sicht- und Denkweise beeinflusst?
Michael Kenna: Zweifellos haben meine Aufenthalte in Asien und insbesondere in Japan meine ästhetische Herangehensweise stark verändert. Ich komme von einer europäischen Tradition und meine frühen fotografischen Meister waren unter anderem Eugène Atget, Bill Brandt, Mario Giacomelli und Josef Sudek. Diese Giganten, die Amerikaner Ansel Adams, Ruth Bernhard, Alfred Steiglitz und andere haben mich stark beeinflusst. Sie alle sind im Herzen Romantiker. Ihre Themen scheinen aus dem Reich der Schatten zu kommen. Es ist, als würden sie mit einer schwarzen Leinwand beginnen. Ich habe das Gefühl, dass die meisten meiner frühen Arbeiten auf diesem Ansatz aufbauen. Meine Reisen durch Japan, wo ich weder lesen noch die Sprache verstehen konnte, haben mich gezwungen, die Dinge anders zu sehen. Die winterlichen Reisen in Hokkaido zeigten mir eine ganz neue Palette. Ich hatte das Gefühl, dass dort die Strenge des Winters ein anderes Bewusstsein schärfte. Die blattlosen Bäume, die Abwesenheit von Farben, die unheimliche Stille, die Reduzierung aller sensorischen Ablenkungen – all das erforderte einen konzentrierteren und klareren Blick auf das Land. Die Landschaft verwandelte sich in ein abstraktes Sumi-e-Gemälde mit schwarzer Tusche auf einer weißen Leinwand. Ich spüre, dass sich meine Sehgewohnheiten durch diese Bedingungen grundlegend verändert haben.

Es war wohl von Anfang ein Sinn für Minimalismus in meiner Arbeit –  und Japan hat ihn richtig zum Tragen gebracht. Ich habe schon oft gesagt, dass ich in meiner Fotografie ein suggestives Element einer detailgenauen Beschreibung vorziehe. Ich versuche, Fotografien zu machen, die mehr mit Haiku-Gedichten als mit langen Romanen zu tun haben. Einige wenige Elemente können ausreichen, um unsere Vorstellungskraft anzuregen. Ich bin nicht sicher, ob all das asiatische Prinzipien sind, aber ich weiß, dass Asien mich sehr beeinflusst hat.

„Es war wohl von Anfang ein Sinn für Minimalismus in meiner Arbeit –  und Japan hat ihn richtig zum Tragen gebracht.“

Michael Kenna, Fotograf

fotoMAGAZIN: Ist die Essenz guter Fotografie die Kunst der Reduktion visueller Informationen?
Michael Kenna: Ich denke, dass das jeder anders definiert. Mir gefällt, was Bill Brandt mal dazu sagte: „Fotografie ist kein Sport. Sie hat keine Regeln." Zu Beginn meiner fotografischen Tätigkeit habe ich am liebsten frühmorgens fotografiert. Ich mochte diese Ruhe und den Frieden, die Abwesenheit von Menschen, die Flucht vor dem ständigen Gemurmel des Alltags. Das Morgenlicht ist oft weich und diffus. Es kann einen unübersichtlichen Hintergrund auf abgestufte Schichten zweidimensionaler Tonalität reduzieren, die das Vorhandene nur andeuten, ohne es zu sehr zu beschreiben. Drei Dimensionen verwandeln sich in zwei. Heute, viele Jahre später, versuche ich immer noch, unwesentliche Details und Inhalte zu eliminieren. Ich versuche zu vereinfachen, zu destillieren und zu minimieren.

Northern England 1983-1986:

 

 

fotoMAGAZIN: Sie sind ein begeisterter Marathonläufer. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem Langstreckenlauf und Ihrer Herangehensweise an die Fotografie?
Michael Kenna: Leider müssen wir hier schon von der Vergangenheit sprechen, denn vor ein paar Jahren hat mein Knie beschlossen, dass es bereits genug Kilometer gelaufen ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits 57 Marathons absolviert und wäre gerne weitergelaufen – war aber gezwungen, mir zwei Teilprothesen einsetzen zu lassen. Leider ohne Erfolg. Für diesen Sommer sind weitere OPs geplant. Ich bezweifle, dass ich künftig noch längere Strecken laufen kann, aber ich freue mich darauf, wenn ich wieder schmerzfrei gehen kann.
Der Langstreckenlauf fordert im Allgemeinen Disziplin, lange Zeiten der Einsamkeit und viel Übung. Das alles unterscheidet sich nicht so stark von meiner fotografischen Herangehensweise. In der Tat habe ich beim Laufen oft sehr interessante Motive entdeckt, bin nach meinem Lauf zurückgekehrt und habe sie fotografiert.

fotoMAGAZIN: Wie wichtig ist es Ihnen, allein zu reisen, wenn Sie fotografieren?
Michael Kenna: Wenn du allein bist, kannst du besser auf dich selbst und auf das, was um dich herum ist hören. Ich würde sagen, dass diese Stimmen eher zur eigenen Kreativität beitragen können. Natürlich ist man in Wirklichkeit aber immer froh, wenn man jemanden hat, der einen führt, unterstützt und hilft. Auf meinen Reisen in asiatische Länder wie Kambodscha, China, Indien, Japan, Korea, Laos, Thailand und Vietnam hätte ich ohne diese Hilfe nicht überleben können, und ich habe das immer sehr zu schätzen gewusst. Bei optimalen Bedingungen bin ich jedoch gerne beim Fotografieren gerne allein.

fotoMAGAZIN: Sie belichten Ihre Bilder oft stundenlang. Hat Ihre Fotografie Ihre Wahrnehmung der Zeit verändert?
Michael Kenna: Schwierige Frage. Ich fotografiere seit einem halben Jahrhundert und kann mich nicht erinnern, ob ich im Alter von 19 Jahren überhaupt eine Vorstellung von Zeit hatte. Wahrscheinlich dachte ich damals noch, ich würde ewig leben. Ich habe den Prozess der traditionellen Silbergelatinefotografie lange als therapeutisch betrachtet. Sowohl das Fotografieren als auch das Printen entschleunigen mich. Sie bringen mich zum Nachdenken, zum Beobachten und fördern die Konzentration. Ich habe oft das Gefühl, dass ich selbst zufrieden wäre, wenn ich keinen Film in der Kamera hätte, denn die Belohnung ist nicht immer das Ergebnis. Manchmal ist die Reise selbst das beste. Ich vermute, dass meine ganze Arbeitsweise inzwischen eine Form von Meditation ist. Ganz sicher hat sie meine Zeitwahrnehmung beeinflusst, aber ich weiß nicht genau wie.

„Ich habe oft das Gefühl, dass ich selbst zufrieden wäre, wenn ich keinen Film in der Kamera hätte, denn die Belohnung ist nicht immer das Ergebnis.“

Michael Kenna

fotoMAGAZIN: Es gab eine Zeit, in der Sie beabsichtigten, Priester zu werden. Was war die wichtigste Lektion aus diesen Jahren, die Sie heute noch nicht vergessen haben?
Michael Kenna: Ich habe gelernt zu schweigen! Als Kind habe ich sieben Jahre in einem katholischen Priesterseminar-Internat verbracht. Dort wurde viel Wert auf Rituale und Disziplin gelegt, und dort gab es etwas, das sich „Magnum Silentium“ nannte, was der lateinische Ausdruck für „das große Schweigen“ ist. Jeden Tag haben wir viele Stunden schweigend verbracht und ich fühlte mich sehr wohl dabei. Ich bin bis heute kein guter Plauderer und vermute, dass das meine Arbeit prägt, in der ich versuche, eine Oase der Ruhe und Einsamkeit zu schaffen. Wenn ich fotografiere, kann um mich herum ein großes Chaos herrschen. Ich habe jedoch nie das Bedürfnis verspürt, das festzuhalten, was sich vor mir befindet. Meine Fotos sind Interpretationen, das Ergebnis von Gesprächen, die ich mit meinen Motiven führe. Die Betrachter werden eingeladen, in das Bild einzutreten und können ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie vervollständigen das Dreieck aus Fotograf, Motiv und Betrachter.

„Meine Fotos sind Interpretationen, das Ergebnis von Gesprächen, die ich mit meinen Motiven führe.“

Michael Kenna

Eine weitere Lektion war, dass es immer viel mehr gibt, als wir sehen können! Im Katholizismus gibt es eine Kerze, die auf oder in der Nähe des Kirchenaltars aufgestellt wird, um die Gegenwart Gottes zu symbolisieren – verborgen, aber immer präsent. Von klein auf wurde mir der Glaube eingeimpft, dass ein ganzes Universum außerhalb meines Sehvermögens existiert. Vielleicht liegt es an diesen frühen Einflüssen, dass ich unabhängig von dem, was jetzt vor der Kamera sichtbar ist, auch versuche, auf das Unsichtbare hinzuweisen. Wenn ich fotografiere, will ich nicht nur das Äußere dokumentieren – ich möchte, dass sich der Betrachter vorstellt, was sich hinter dem Schleier verbirgt, selbst wenn ich es nicht weiß.

Die dritte Lektion betrifft die Verflechtung allen Lebens – was zumindest für mich das gesamte Universum einschließt. Wir sind alle Teil von einem einzigen lebenden Organismus. Die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation besagt, dass wir auf einer subatomaren Ebene alles beeinflussen, was wir beobachten. Ich nutze diese Gesetzmäßigkeit, um sicherzustellen, dass ich immer die Erlaubnis desjenigen einhole, den ich fotografiere.

Flesh of Stone

fotoMAGAZIN: Wie würden Sie das Konzept der „Seele einer Landschaft“ in einem Foto beschreiben? Fotografieren Sie die Seele einer Landschaft?
Michael Kenna: Das überlasse ich lieber klügeren Köpfen als mir – das übersteigt meine Gehaltsklasse! Ich könnte sagen, dass die Anwesenheit von Abwesenheit ein wesentlicher Aspekt meiner Arbeit ist. Obwohl ich selten Menschen fotografiere, suche ich nach Erinnerungen und Spuren – nach dem, was sie hinterlassen haben. Wenn man mich bittet, ein Resümee meiner Arbeit zu ziehen, verweise ich gewöhnlich auf mein Interesse am Nebeneinander, an der Beziehung, ja sogar an der Konfrontation zwischen den organischen Elementen der Erde und den Strukturen, die wir Menschen in und auf die Landschaft setzen.

fotoMAGAZIN: Wie können Emotionen in einem Landschaftsbild vermittelt werden?
Michael Kenna: Ich würde eher fragen, wie das überhaupt anders sein könnte? Jedes Mal, wenn ich einen schönen Baum, einen majestätischen Berg, einen plätschernden Fluss, einen jungen Sonnenaufgang oder einen dramatischen Monduntergang sehe, werde ich emotional. Das alles mag man leicht für selbstverständlich halten, aber wenn wir es unvoreingenommen neu betrachten, denke ich, dass man gar nicht anders kann, als Gefühle zu zeigen. Ein Foto kann diese Emotionen destillieren oder medial vermitteln. Ein Bild kann ein Katalysator oder Auslöser sein, der ähnliche Gefühle hervorruft.

fotoMAGAZIN: In welchem Alter haben Sie gemerkt, dass Sie mit der Fotografie Ihren Lebensunterhalt verdienen können?
Michael Kenna: Daran arbeite ich noch, und ich werde Ihnen sicher Bescheid geben, wenn ich es geschafft habe! Im Ernst: Ich habe mich in erster Linie für die Fotografie entschieden, weil ich wusste, dass ich damit meinen Lebensunterhalt verdienen kann – wenngleich auch mit kommerzieller Arbeit. Ich komme aus einem bescheidenen Arbeitermilieu und wusste immer, dass es kein Sicherheitsnetz gab. Ich musste für mich selbst sorgen. Ich habe Kunst studiert und hätte vielleicht eine Karriere in der Malerei, der Druckgrafik oder einem anderen Medium eingeschlagen, wäre da nicht etwas offensichtlich gewesen: Ich wäre wohl nicht gut genug gewesen, um zu überleben! Die Fotografie schien mir das Medium zu sein, mit dem ich mit kommerziellen Arbeiten Geld verdienen und mich gleichzeitig selbst ausdrücken konnte. Erst als ich als Austauschstudent nach New York ging und an den Wänden der Witkin Gallery Fotos sah, die zum Verkauf angeboten wurden, kam mir der Gedanke, dass ich vom Verkauf von Prints leben könnte. Während des größten Teils meiner Karriere habe ich das Medium sowohl kommerziell als auch als persönliche Muse genutzt. Diese Wege haben sich immer gegenseitig beeinflusst und unterstützt. 

fotoMAGAZIN: Sie haben für die Fotografin Ruth Bernhard in San Francisco gearbeitet: Was haben Sie von ihr gelernt?
Michael Kenna: Als ich in den späten 1970er-Jahren in die USA zog, hatte ich das große Glück, Ruth Bernhard kennenzulernen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass ich ein guter Printer sei. Ich hatte meine eigenen Arbeiten und die von ein paar anderen Fotografen gedruckt. Ruth gab mir jedoch ganz neue Einblicke in den Arbeitsprozess. Für sie war das Negativ ein Ausgangspunkt. Sie verwandelte einen zunächst ganz einfachen Abzug radikal in einen Ruth-Bernhard-Print. Dazu konnte es gehören, die Bühne zu neigen, um eine andere Perspektive zu bekommen, den Fokus abzuschwächen, um gleichmäßige Töne zu erzeugen, Masken zum Abwedeln des Motivs zu erstellen und verschiedene Chemikalien zu verwenden, um den Kontrast oder die Farbe des Bildes zu verändern. Sie weigerte zu denken, dass das Unmögliche nicht möglich sei und dachte, dass es keine Regel gäbe, die nicht auch gebrochen werden könnte. Die Arbeit mit Ruth hat meine Art zu printen verändert. Ich war danach in der Lage, Negative zu drucken, die ich zuvor aufgegeben hatte. Die Beherrschung dieses Handwerks kann die Kreativität fördern.
Ruth meinte oft, dass ihre Rolle als Lehrerin viel wichtiger sei als ihr Ruf als Fotografin. Mein Jahrzehnt mit ihr war unbezahlbar. Ich kann ihren Einfluss auf mein Leben und meine Arbeit nicht hoch genug einschätzen. Für mich als junger Fotograf, der versuchte, sich in der äußerst verwirrenden Welt der Galerien, Verlage und Fotoagenten zurechtzufinden, war Ruth jemand, der mir den Weg zeigte. „Heute ist der Tag“ war ihr Mantra, und ihre Entschlossenheit, in der Gegenwart zu leben, jeden Moment zu schätzen und immer Ja zum Leben zu sagen, hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

fotoMAGAZIN: Wie gehen Sie mit Trittbrettfahrern um, die versuchen, Ihre Bilder zu imitieren und mit diesen Fotos Geld verdienen?
Michael Kenna: Ich ignoriere sie und habe wirklich keine andere Wahl. Es ist eigentlich ganz einfach. Ich glaube, dass jeder Mensch, der etwas auf sich hält und sich mit Fotografie, Malerei, Poesie, Musik oder anderen kreativen Ausdrucksformen beschäftigt, danach streben sollte, seine eigene Stimme und Vision zu finden. Es ist völlig in Ordnung, lehrreich und gesund, andere zu imitieren und von ihnen zu lernen. Ich habe das ebenfalls ausgiebig getan. Aber das Nachahmen geht eben nur bis zu einem gewissen Punkt und kann nach einiger Zeit ermüdend und unbefriedigend werden. Jeder von uns hat etwas Wichtiges zu sagen. Herauszufinden, was das ist und wie man es sagt, ist nicht so einfach. Die Entdeckungsreise zu uns selbst wird mit Sicherheit auch schwierige Phasen mit sich bringen. Realistischerweise werden wir vielleicht nie die höchste Stufe der Kreativität erreichen, zu der wir fähig sind. Ironischerweise würden wir es wahrscheinlich nicht merken, wenn wir je dort ankommen! Aber ich glaube, dass gerade das Streben nach unserem höchsten Potenzial entscheidend im Leben ist. Wir können uns auf die Schultern von Giganten setzen, die uns auf unserem Weg helfen, doch letztendlich müssen wir auf uns selbst schauen. Andere sklavisch zu imitieren, mag kurzfristig gewinnbringend sein, aber das kann insgesamt nicht sehr befriedigend sein.

„Andere sklavisch zu imitieren, mag kurzfristig gewinnbringend sein, aber das kann insgesamt nicht sehr befriedigend sein.“

Michael Kenna

fotoMAGAZIN: Was verbinden Sie heute noch mit jener Landschaft im Nordwesten Englands, in der Nähe von Liverpool, in der Sie aufgewachsen sind? Kehren Sie manchmal zurück, um sie zu fotografieren?
Michael Kenna: Ich bin lange nicht mehr zurückgekehrt, um dort zu fotografieren, mit einer Ausnahme: In meinem Internat habe ich für den Bildband „St. Joseph's College, Upholland“ fotografiert, der 2021 bei Prestel veröffentlicht worden ist. Während der Corona-Pandemie durchstöberte ich mein Archiv mit alten Negativen und printete viele Aufnahmen aus den Achtzigerjahren, die in dieser Gegend entstanden waren. Dieses Buch ist ebenfalls 2021 von Nazraeli Press unter dem Titel „Northern England 1983-1986“ veröffentlicht worden.

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