Die Praktica LLC war die erste Spiegelreflexkamera der Welt mit elektrischer Offenblendenmessung und TTL-Belichtungsmessung, die von 1969 bis 1975 in Dresden vom VEB Pentacon gefertigt wurde und wegweisende Maßstäbe für Kameraelektronik setzte.
© Dnalor 01, CC BY-SA 3.0 AT <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/at/deed.en>, via Wikimedia CommonsDie Wurzeln von Praktica reichen ins Jahr 1919 zurück, als Benno Thorsch und Paul Guthe in Dresden die Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch gründeten. Zwischen 1919 und dem Einstieg von Charles A. Noble im Jahr 1938 entwickelte sich der Betrieb von einer kleinen Werkstatt zu einem bedeutenden Kameraproduzenten. Durch kluge Modellpolitik und eine exportorientierte Strategie wuchs das Unternehmen stark, obwohl der sächsische Fotomarkt hart umkämpft war.
Aufstieg unter Benno Thorsch
Anfang der 1930er Jahre schied Paul Guthe aus, nachdem Benno Thorsch ihn ausgezahlt hatte. Ab 1930 ließ sich Thorsch fotografische Modelle patentieren und brachte wegweisende Produkte auf den Markt – darunter die kompakte Patent-Etui-Faltkamera sowie die Pilot, die erste zweiäugige Spiegelreflexkamera. Ende der 1930er-Jahre existierte bereits die Praktiflex, eine Vorgängerin der späteren Praktica, deren Serienproduktion jedoch erst nach Thorschs Ausreise begann.
Wachstum und internationale Anerkennung
Das Unternehmen beschäftigte in den späten 1920er Jahren bis zu 150 Mitarbeiter und stellte rund 100 Kameras pro Tag her. 1928 zog es in größere Räumlichkeiten, die Modellpalette wurde laufend erweitert. Das technische Niveau galt als herausragend, die Produkte genossen auch international Ansehen.
Als Schweizer Staatsbürger mit jüdischem Elternteil war Benno Thorsch 1938 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Er übergab die Firma im Rahmen eines Tauschgeschäfts an den US-Amerikaner Charles A. Noble und emigrierte in die USA. Damit endete die Ära Thorsch – und mit Noble begann der nächste große Innovationsschub.
Die kurze Ära Noble
Charles A. Noble erkannte rasch das Potenzial der Spiegelreflextechnik und leitete ab 1938 die entscheidende Phase ein, in der die erste Kleinbild-Spiegelreflexkamera der Firma entwickelt wurde. Besonders bedeutsam war die Einführung der Praktiflex 1939, die als erste SLR mit Rückkehrspiegel und M40-Schraubgewinde vorgestellt wurde und damit echte Innovationen bot: schneller Objektivwechsel und einfachere Handhabung. Noble organisierte zudem den Bau der neuen Fabrik in Niedersedlitz und weitete die Produktion erheblich aus – die Grundlage für die spätere Serienfertigung von Kleinbild-SLRs nach modernsten Standards.
Die Ära Noble in Dresden endete abrupt im Juli 1945, als Charles A. Noble und sein Sohn John H. Noble von der sowjetischen Geheimpolizei festgenommen wurden. Charles A. Noble wurde über Jahre ohne Anklage in verschiedenen Speziallagern und später im Zuchthaus Waldheim gefangen gehalten und erst 1952 als gebrochener Mann entlassen. Sein Sohn John wurde zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert; beide erlebten schwere Haftbedingungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb enteignet und als Volkseigener Betrieb (VEB) Kamera-Werke Niedersedlitz verstaatlicht. Damit begann die sozialistische Phase der Dresdner Kameraproduktion.
1949: Die erste Praktica entsteht
Die erste Praktica wurde 1949 von Siegfried Böhm konstruiert. Der ehemalige Zeiss-Ikon-Konstrukteur Böhm wurde in das Unternehmen geschickt, um die Produktion zu beschleunigen. Hintergrund: Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) forderte 1945 von den Kamera-Werkstätten die jährliche Lieferung von 50.000 Kameras der Modelle Praktiflex und Pilot Super. Wegen der weitgehend auf handwerkliche Verfahren ausgelegten Produktion im Niedersedlitzer Werk war es jedoch unmöglich, eine solche Stückzahl zu erreichen.
Die Praktica war daher nicht nur eine technische Weiterentwicklung der Praktiflex, sondern auch ein Schritt hin zur rationelleren Fertigung. Sie setzte auf das moderne M42-Schraubgewinde und legte die Grundlage für eine Modellreihe, die in den kommenden Jahrzehnten millionenfach produziert werden sollte.
Vom VEB Niedersedlitz zu Pentacon
1959 gingen die Kamera-Werke Niedersedlitz in dem neu gebildeten Großbetrieb Volkseigener Betrieb (VEB) Kamera- und Kinowerke Dresden auf, in dem mehrere traditionsreiche Hersteller zusammengefasst wurden. 1964 folgte schließlich die Umbenennung in VEB Pentacon Dresden – den später größten Kameraproduzenten der DDR. Der Name Pentacon leitet sich einerseits von der Marke Contax der Dresdner Zeiss Ikon Kamera-Werke ab, andererseits vom griechischen Wort Pentagon (Fünfeck). Hintergrund ist ein in Dresden entwickeltes Pentaprisma für Spiegelreflexkameras, das im Querschnitt diese Form besitzt. Als Firmenlogo diente die Silhouette des Ernemann-Turms, einem Wahrzeichen der Dresdner Industrie.
Pentacon als Dachmarke: Konsolidierung und Aufstieg
1968 wurde Pentacon zu einem Kombinat erweitert. Eingegliedert wurden das Feinoptische Werk Görlitz (Meyer-Optik) sowie die Ihagee (Exakta/Exa). 1980 folgten die Kamerawerke Freital (Beirette) und die Mentor-Kamerafabrik. Ab 1985 gehörte Pentacon organisatorisch zum Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Damit bündelte die DDR ihre führenden optisch-feinmechanischen Betriebe unter einem Dach – Praktica war deren Aushängeschild.
„Fotografiere mit Pentacon Kameras“ – Pentacon-Werbung mit dem Praktica-Logo an der Prager Straße in Dresden, um 1975
© Deutsche FotothekProduktionszahlen: Vom Handwerk zur Massenfertigung
In den frühen 1960er-Jahren entstanden in Niedersedlitz rund 2.500 Kameras pro Monat – noch weitgehend in Handarbeit. Mit der Fließbandfertigung ab 1963/64 stieg die Monatsproduktion auf 5.000 bis 8.000 Stück. In den 1970er- und 1980er-Jahren erreichte die Praktica-Produktion ihre Hochphase: Millionen Kameras wurden jährlich produziert, insgesamt rund neun Millionen bis 1989. Praktica war damit die mengenmäßig bedeutendste Spiegelreflexmarke der DDR.
Praktica als Exportschlager: Märkte im Osten und im Westen
Die Exportquote lag zeitweise bei über 75 Prozent. Praktica-Kameras gingen nicht nur in die sozialistischen Bruderländer – Sowjetunion, Polen, Ungarn, Bulgarien, ČSSR –, sondern auch in den Westen: nach Großbritannien, Frankreich, Italien, Australien – und in die Bundesrepublik. Dort erschienen sie allerdings zumeist unter Handelsmarken wie Revue, Porst oder Hanimex.
In der DDR galt die Praktica zugleich als wichtiger Devisenbringer und wurde propagandistisch als Beispiel für den „Fortschritt des Sozialismus“ genutzt. Im Ostblock war sie teilweise Bückware – ein begehrter Gegenstand mit hohem Statuswert. In der Bundesrepublik war die Berliner Firma Beroflex der wichtigste Importeur.
Ikonen der Marke: L-Reihe, MTL3/MTL5 und die B-Serie
Die Praktica L als technischer Durchbruch
1969 begann mit der Praktica L eine neue Ära. Das „L“ stand für den vertikal ablaufenden Lamellenverschluss aus Stahl, der den anfälligen Gummituchverschluss ersetzte. Der neue Schlitzverschluss war nahezu verschleißfrei und temperaturunabhängig.
Zu den weiteren Innovationen gehörte das PL-System (Pentacon Loading), das 1967 eingeführt und in der L-Serie serienmäßig eingesetzt wurde. Es erleichterte das Filmeinlegen erheblich und wurde bald zu einem Markenzeichen der Praktica. Eine weitere Weltneuheit war die Praktica LLC von 1969 – die erste Spiegelreflexkamera weltweit mit elektrischer Blendwertübertragung. Damit war eine direkte TTL-Messung möglich, die die Handhabung revolutionierte.
Die wichtigsten Merkmale der L-Reihe: Belichtungszeiten bis 1/1000 s, M42-Anschluss, Rückkehrspiegel mit fast ununterbrochener Bildbeobachtung, unterschiedliche Belichtungsmessungen je nach Modell (L, LTL, LLC), Varianten mit Automatik (EE2, EE3) sowie die kantige, modernisierte Gehäuseform. Insgesamt wurden von der L-Reihe in vier Generationen über 4,8 Millionen Stück gebaut.
Eine Sonderrolle spielte die Exakta RTL 1000, eine Abwandlung des L-Gehäuses mit Exakta-Bajonett. Sie blieb ein technisches Experiment und wurde 1973 wieder eingestellt.
Die Praktica MTL-Reihe als Massenprodukt
Die Modelle MTL3 und MTL5 bauten auf der L-Reihe auf, boten TTL-Messung, solide Mechanik und einfache Bedienung. Sie wurden millionenfach exportiert und gelten bis heute als Inbegriff der Marke. Ab 1979 folgte die B-Serie mit dem neuen PB-Bajonett. Modelle wie B200, B100, BC1 oder BCA brachten modernere Automatikfunktionen und ein neues Objektivprogramm. Sie setzten Akzente, konnten aber nicht mehr die Dominanz der L- und MTL-Generation erreichen.
Die Praktica MTL 5 war eine der beliebtesten DDR-Spiegelreflexkameras der 1980er Jahre, bekannt für ihre Zuverlässigkeit, robuste Bauweise und einfache TTL-Belichtungsmessung, wodurch sie zu einem internationalen Verkaufsschlager wurde.
© Industrie- und Filmmuseum Wolfen (CC BY-NC-SA)Pentacon beschränkte sich jedoch nicht auf die Praktica. Berühmt wurden auch die Praktisix und später die Pentacon Six als bezahlbare Mittelformatkameras. Hinzu kamen Kleinbildmodelle wie die Penti, die Pentona oder die beliebten Beirette-Kameras. Auch die Pentacon Super für den Profibereich und die Exa-Reihe (aus der Ihagee-Tradition) wurden gefertigt. Neben Fotoapparaten produzierte Pentacon Projektoren, Filmkameras und Zubehör – vom Filius-Diaprojektor bis zur Schmalfilmkamera Pentaflex 8. Spät, im Jahr 2010, stellte Pentacon sogar die hochauflösende Scannerkamera Scan 7000 vor.
Zeiss Jena und Praktica: Optiken als Aushängeschild
Carl Zeiss Jena lieferte die hochwertigsten Objektive für Praktica und Pentacon: Tessar, Pancolar, Flektogon oder Sonnar sind bis heute klangvolle Namen. Ab Einführung des PB-Bajonetts erschienen sie auch unter dem Label Prakticar. Die Zusammenarbeit mit Zeiss trug wesentlich zum internationalen Ruf von Praktica bei und machte die Kameras konkurrenzfähig.
In Westdeutschland trat Praktica zunächst gegen Exakta, Edixa, Rollei und Leica an. Ab den 1970er-Jahren aber übernahmen japanische Hersteller wie Canon, Nikon, Minolta, Pentax und Olympus die technologische Führung. Elektronik, Programmautomatik, Autofokus – die Innovationszyklen wurden kürzer. Praktica konnte preislich mithalten, technologisch aber immer weniger. Das zentralistische DDR-Wirtschaftssystem bremste die notwendige Entwicklung.
Wende, Treuhand, Liquidation: das Ende der Dresdner Fertigung
Mit der politischen Wende 1989 und dem bevorstehenden Ende der DDR stand auch die traditionsreiche Dresdner Kameraindustrie vor einem tiefgreifenden Umbruch. Die volkseigenen Betriebe sollten in marktwirtschaftliche Strukturen überführt werden.
Zum 1. Juli 1990 wurde der VEB Pentacon in die Pentacon GmbH umgewandelt – ein Unternehmen im Eigentum der Treuhandanstalt, die mit der Privatisierung und Sanierung der DDR-Betriebe beauftragt war. Rund 5.700 Beschäftigte arbeiteten zu diesem Zeitpunkt noch bei Pentacon.
Doch die wirtschaftliche Lage war angespannt: Pentacon erhielt wie andere ehemalige VEB nur einen pauschalen Kreditanteil von der Treuhand, was den dringend nötigen Investitionsspielraum massiv einschränkte. Geschäftsführer Gunter Schulzki warnte damals öffentlich, dass das Unternehmen ohne ausreichende Unterstützung kaum überlebensfähig sei.
Die Befürchtungen bewahrheiteten sich: Am 2. Oktober 1990 – einen Tag vor der deutschen Wiedervereinigung – ordnete die Treuhand die Liquidation von Pentacon an. Damit war das Dresdner Kamerawerk der erste Großbetrieb, der nach der Wende abgewickelt wurde.
Markenrechte, Noble und die Rückgabe-Frage
1990 kehrte John H. Noble, Sohn des enteigneten Charles A. Noble, nach Dresden zurück. Er kämpfte um die Rückgabe der Marke, erhielt zwar Teile des ehemaligen Betriebsgeländes zurück, nicht aber die Rechte an Praktica – diese blieben beim Dresdner Pentacon-Betriebsteil und gingen später an die Schneider-Gruppe.
Andere Produktionszweige wurden ausgegliedert: Die Familie Noble stellte unter dem Namen Noblex Panoramakameras und unter Loglux Industriekameras her. Die Görlitzer Meyer-Optik wurde kurzzeitig wiederbelebt, aber schon 1991 liquidiert.
Praktica nach 1990: Vom SLR-Hersteller zur Vertriebsmarke
In den 1990er-Jahren erschienen noch analoge SLR-Modelle, etwa die BX20s. Doch 2001 endete die Spiegelreflexproduktion endgültig. Ab 2002 wurden Digitalkameras und Ferngläser unter dem Namen Praktica angeboten, meist aus asiatischer Fertigung. 2004 startete die Reihe „Luxmedia“. 2015 gingen die Markenrechte an Praktica Ltd. in Großbritannien. 2022 wurde der operative Betrieb der Pentacon GmbH in Dresden eingestellt.
Heute steht Praktica für einfache Digitalkameras, Outdoor-Modelle, Actioncams, Dashcams sowie optisches Zubehör wie Ferngläser oder Mikroskope. Die Dresdner Fertigung ist Geschichte, die Marke lebt als international geführtes Label weiter.
© PrakticaWarum Praktica bis heute Kult ist
Praktica-Kameras – allen voran die L-Reihe, die MTL3/MTL5 und die B200 – sind robust, servicefreundlich und erschwinglich. Viele Exemplare funktionieren nach Jahrzehnten noch. Die Verbindung aus einfacher Bedienung, sächsischer Ingenieurskunst und DDR-Industriegeschichte macht sie zu begehrten Klassikern auf dem Vintage-Markt. Zeiss-Jena-Objektive verstärken diesen Kultstatus.
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