Wissen: Was ISO-Werte wirklich bedeuten

Die Kamerahersteller werben aktuelle Modelle mit bis zu sechsstelligen ISO-Werten. Einige Experten melden allerdings Zweifel an: Die Empfindlichkeitsangaben hätten ihren Sinn verloren, da sich die Hersteller ohnehin nicht mehr an den ISO-Standard hielten. Was bedeuten die ISO-Werte wirklich?

Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann

freier Journalist und Technikexperte

ISO-Enstell-Rad

Auch heute wird der ISO-Wert bei einigen Kameras noch über ein mechanisches Rad gewählt. L und H stehen für Werte außerhalb des empfohlenen Bereichs.

Foto: © Getty Images

Von allen Angaben im Datenblatt einer Kamera stehen die verfügbaren ISO-Empfindlichkeitswerte wohl am häufigsten im Verdacht, nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen. Man traut den Herstellern zu, hier großzügig aufzurunden, und manche Fotografen vergleichen ihre neue Kamera erst einmal mit anderen, um zu testen, ob die ISO-Werte auch nicht gemogelt sind. Manchmal stellen sie dann fest, dass zwei Kameras verschiedener Hersteller unterschiedliche ISO-Empfindlichkeiten haben, obwohl die den gleichen Sensor nutzen. Kann es da mit rechten Dingen zugehen?

Tony Northrup, Autor von Tutorial-Videos und eines Lehrbuchs zur Fotografie, ging jüngst so weit, ISO-Werten jegliche Legitimität abzusprechen: „ISO is totally FAKE. Seriously“ (www.youtube.com/watch?v=QVuI89YWAsw). Die Angabe des ISO-Werts, sagt Northrup, sei früher nützlich gewesen, um für Filme unterschiedlicher Empfindlichkeit die jeweils optimalen Werte von Blende und Verschlusszeit zu bestimmen. Heutzutage würde sich aber niemand mehr an Standards halten und die ISO-Werte wären so beliebig, dass man sie ignorieren könne.

Obwohl Tony Northrup in seiner ISO-Kritik manches Richtige sagt, sind seine Schlussfolgerungen in mehrfacher Hinsicht falsch. Weder war der ISO-Wert (beziehungsweise die Empfindlichkeitsangaben nach den älteren Standards ASA oder DIN) in der analogen Fotografie immer eindeutig definiert und präzise angegeben, noch trifft es zu, dass es in der digitalen Fotografie keine gültigen Standards mehr gäbe. Aufgerundet wurde beispielsweise schon immer – wenn die gemessene Empfindlichkeit einer Filmemulsion ISO 90 betrug, wurde die Filmschachtel auf dem nächsthöheren Wert der Skala, also ISO 100 beschriftet. Bei Filmen der höheren Empfindlichkeitsklassen wie ISO 1600 oder 3200 haben einige Hersteller noch großzügiger gerundet. Das eigentliche Problem war jedoch schon damals, wie man die Empfindlichkeit überhaupt definieren sollte.

Was bedeutet die ISO-Empfindlichkeit?

Die wesentliche Aufgabe des ISO-Werts besteht darin, die Lichtmenge anzugeben, die für eine optimale Belichtung nötig ist. Je höher der ISO-Wert, desto weniger Licht wird benötig. Die gemessene Helligkeit, die ISO-Empfindlichkeit, der Blendenwert und die Verschlusszeit stehen in einer festen Beziehung zueinander. Ändert sich einer dieser Werte, muss sich wenigstens ein zweiter ändern, damit die Bedingungen für die richtige Belichtung erneut erfüllt sind. Sinkt beispielsweise die Helligkeit des Motivs, so müssen wir weiter aufblenden, länger belichten oder den ISO-Wert heraufsetzen. Wählen wir eine größere Blende, so müssen wir kürzer belichten, den ISO-Wert verringern oder die Helligkeit – etwa durch ein ND-Filter – reduzieren. Im Exif-Standard, der die Belichtungsdaten in einer logarithmischen Form angibt, hat die Beziehung der vier Werte eine besonders einfache Form: Blendenwert + Verschlusszeit = Helligkeit + Empfindlichkeit.

Dieser Zusammenhang galt schon immer und er wird auch in Zukunft gelten; ob wir Filme oder einen Sensor belichten, spielt dabei keine Rolle. Man sollte also denken, dass die ISO-Empfindlichkeit eindeutig bestimmt wäre, denn wenn man Blende, Verschlusszeit und Helligkeit kennt, lässt sich der ISO-Wert daraus berechnen. Ganz so einfach ist es jedoch nicht und das liegt daran, dass der ISO-Wert für eine optimale Belichtung sorgen soll.

Die wahre Sensorempfindlichkeit: ISO 100 oder ISO 200?

Illustration ISO 100 und ISO 200

Die Illustration links zeigt wie eine kontrastreiche Szene mit einem mit ISO 100 spezifizierten Sensor abgebildet wird, dessen Dynamikumfang dem nicht gewachsen ist. Im rechten Beispiel wird der Sensor mit ISO 200 spezifiziert und entsprechend belichtet. In beiden Fällen wird ein mittlerer Grauwert am Ende als mittlerer Grauwert abgebildet, aber im zweiten Fall bleibt der Kontrastumfang erhalten.

Illustration: © Michael J. Hußmann

Was ist eine optimale Belichtung?

Früher ging die Belichtungsmessung stets von einem mittleren Grauwert aus, wie ihn eine Graukarte mit 18 % Reflexionsvermögen hat. Entweder maß man mit einer Spotmessung ein Motivdetail an, dessen Helligkeit diesem mittleren Grauwert entsprach, oder man maß das von der gesamten Szene reflektierte Licht und ging davon aus, dass im Mittel 18 % reflektiert wurde. Das Ziel war es, so zu belichten, dass ein mittlerer Grauwert auch im Bild wieder als mittlerer Grauwert erschien. Wenn man auf diese Weise für die richtige Belichtung mittlerer Tonwerte sorgte, würden Lichter und Schatten automatisch ebenfalls optimal abgebildet. Der ISO-Wert bezieht sich auf diese Definition einer optimalen Belichtung: Mit einer Belichtung nach dem ISO-Wert wird ein mittlerer Grauwert als mittlerer Grauwert wiedergegeben. (Messtechnisch wird der ISO-Wert für Filmmaterial anders ermittelt, nämlich ausgehend von der Belichtung, die eine gerade eben erkennbare Schwärzung erzeugt, aber in der fotografischen Praxis kommt es auf die Wiedergabe des mittleren Grauwerts an, auf den die Belichtungsmessung geeicht ist.)

Die Annahme, die optimale Belichtung der Lichter und Schatten würde sich automatisch ergeben, war schon immer allzu optimistisch. Ansel Adams popularisierte deshalb seit 1939 das Zonensystem, das die bestmögliche Wiedergabe aller Tonwerte statt nur der Mitteltöne anstrebt. Welche Belichtung den Kontrastumfang optimal wiedergibt, hängt auch von der Filmemulsion ab. Negativfilm reagiert recht gutmütig auf eine Überbelichtung, sodass kontrastreiche Motive besser reichlich belichtet werden, um den Dynamikumfang der Filmemulsion maximal auszunutzen. Umkehrfilme sollte dagegen im Zweifelsfall knapper belichtet werden, da sie Unter- eher als Überbelichtungen verkraften.

Definiert man die optimale Belichtung so, dass sie Lichtern ebenso wie Schatten gerecht werden soll, dann müsste man bei einem Negativfilm mit ISO 100 einen niedrigeren, bei einem Umkehrfilm nominell gleicher Empfindlichkeit aber einen höheren ISO-Wert als die Nennempfindlichkeit wählen. Schon in der analogen Ära wurde die Mehrfeldbelichtungsmessung als Alternative zur Spot- oder Integralmessung eingeführt. Sie basiert nicht darauf, Motivdetails mit einem mittleren Grauwert anzumessen, sondern zielt auf eine Belichtung, die alle Tonwerte bildwichtiger Motive im Bild erhält. Damit war die klassische Definition der ISO-Empfindlichkeit bereits obsolet, denn mit der Mehrfeldmessung gab es eine zuverlässigere Methode, automatisch die optimale Belichtung zu finden, die freilich nicht garantierte, dass mittlere Grauwerte auch als mittlere Grauwerte wiedergegeben wurden.

Analoge und digitale Verstärkung

Grafik analoge und digitale Verstärkung

Die aus den Sensorpixeln ausgelesenen Spannungswerte werden bei der Wahl eines hohen ISO-Werts zunächst analog verstärkt und dann digitalisiert. Die digitalen Werte können zusätzlich multipliziert werden, sodass beispielsweise mit einer 8fachen Verstärkung und einer Multiplikation mit 4 aus ISO 200 schließlich ISO 6400 wird.

Illustration: © Michael J. Hußmann

Mehr Flexibilität in der Digitalfotografie

Mit der Digitalfotografie wurde die Steuerung der Tonwertwiedergabe nach der Belichtung flexibler. In der Dunkelkammer konnte man die Tonwertwiedergabe vor allem durch die Wahl der Papiergradation steuern und beispielsweise einen hohen Kontrast mit einem Fotopapier weicher Gradation mildern. Die Gradationskurve, die eine Kamera anwendet, um aus den Rohdaten des Sensors die Tonwerte in einem JPEG zu erzeugen, ist prinzipiell beliebig und kann auch an die Erfordernisse des Motivs angepasst werden. Je nach der verwendeten Gradationskurve verschiebt sich aber der mittlere Grauwert und selbst die Wahl des Farbraums, meist sRGB oder Adobe RGB, hat darauf einen Einfluss – und damit auf den ISO-Wert.

Der aktuelle Standard ISO 12232:2006 sieht neben der klassischen Messung der ISO-Empfindlichkeit weitere Methoden vor, von denen zwei allgemein gebräuchlich und vom Exif-Standard unterstützt werden: SOS und REI. SOS („Standard Output Sensitivity“) legt fest, dass der mittlere Tonwert eines RGB-Bildes einem mittleren Grauwert entsprechen soll. Diese ISO-Variante, die Fuji, Leica, Olympus, Panasonic und Ricoh/Pentax verwenden, ist nur im Farbraum sRGB definiert und schließt eine Mehrfeldmessung aus. Dagegen wird die Mehrfeldmessung ebenso wie alternative RGB-Farbräume von REI („Recommended Exposure Index“) unterstützt, der ISO-Variante, auf die Canon, Nikon und Sony setzen.

REI überlässt es den Kameraherstellern, den Maßstab für eine optimale Belichtung zu definieren, weshalb man Tony Northrup darin recht geben könnte, dass ISO-Werte heute völlig beliebig wären. Tatsächlich gibt es jedoch triftige Gründe, die ISO-Empfindlichkeit in unterschiedlicher Weise zu interpretieren.

Nehmen wir an, eine Kamera A hätte einen Sensor, dessen Grundempfindlichkeit mit ISO 100 angegeben ist. Die Kamera belichtet entsprechend und erzeugt so JPEGs mit stimmigen Tonwerten, aber bei kontrastreichen Motiven kommt es oft zu ausgefressenen Lichtern. Kamera B eines anderen Herstellers hat einen identischen Sensor, nur gibt ihr Hersteller dessen Empfindlichkeit mit ISO 200 an. Obwohl die Kamera daher um 1 EV knapper belichtet, sind ihre JPEGs nicht dunkler. Der Hersteller hat die Gradationskurve nämlich so gewählt, dass sie die Mitteltöne stärker anhebt und damit für ebenso helle Bilder wie die von Kamera A sorgt. Im Unterschied zu dieser liefert Kamera B jedoch in kritischen Situationen mehr Lichterzeichnung – ihr Dynamikumfang ist höher, wenn auch auf Kosten eines etwas höheren Rauschens in den Schatten. Die beiden Hersteller haben also unterschiedliche Prioritäten gesetzt: Der Hersteller von Kamera A maximiert den Rauschabstand, der von Kamera B den Dynamikumfang. Die Frage, ob die wahre Empfindlichkeit des Sensors nun ISO 100 oder 200 sei, hat keine eindeutige Antwort – beide Werte sind unter den jeweiligen Zielvorgaben für eine optimale Belichtung korrekt.

Was bewirkt die ISO-Einstellung?

Bei einer analogen Kamera informiert die ISO-Einstellung nur die Belichtungsautomatik, für wie viel Licht sie sorgen soll. Der eigentliche Wechsel der Empfindlichkeit geschieht, indem man einen Film mit dem gewünschten ISO-Wert einlegt. Der Sensor einer Digitalkamera ist nicht austauschbar und es wird oft gesagt, dass eine solche Kamera nur eine einzige echte Empfindlichkeitsstufe hätte, nämlich die Grundempfindlichkeit ihres Sensors. Heutzutage stimmt das meist nicht mehr, denn moderne Sensoren lassen sich zwischen zwei ISO-Grundwerten umschalten.

Sony Alpha 9

Die Sony Alpha 9 ist für ihren Dual-ConversionGain-Sensor bekannt, bei dem die Umschaltung zwischen ISO 500 und 640 erfolgt.

© Sony

Die Empfindlichkeit eines Sensors hängt einerseits davon ab, wie viele der auf ein Sensorpixel treffenden Photonen jeweils ein Elektron freisetzen, und andererseits von der Zahl der Elektronen, die gespeichert werden können. Da Sensoren keine Überbelichtung vertragen – sobald die Füllgrenze der Ladungsspeicher erreicht ist, können keine weiteren Photonen mehr registriert werden –, sollten sie so belichtet werden, dass die hellsten Lichter, die noch Zeichnung behalten sollen, die Ladungsspeicher gerade bis zum Maximum füllen. Sind die Lichtverhältnisse aber so, dass man einen höheren ISO-Wert wählen muss, bleibt einem nichts anderes übrig, als aus den wenigen gesammelten Elektronen das Beste zu machen.

Um die Empfindlichkeit des Sensors zu erhöhen, müsste man die Ladungsspeicher verkleinern – die Füllgrenze wäre dann schneller erreicht und die ISO-Empfindlichkeit daher höher. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde man sich damit in die Tasche lügen, denn in einem kleineren Ladungsspeicher sammelt man ja nicht mehr Elektronen. Beim Auslesen des Sensors wird aber nicht die elektrische Ladung digitalisiert, sondern die Spannung, und diese ist bei gleicher Ladung um so größer, je kleiner die Kapazität ist. Ein kleinerer Ladungsspeicher liefert eine höhere Spannung, und damit wächst der Rauschabstand ebenso wie der Dynamikumfang. Um die Vorteile großer und kleiner Ladungsspeicher in einem Sensor zu kombinieren, haben die Sensorhersteller die Speicherkapazität umschaltbar gemacht. In jedem Sensorpixel gibt es einen großen und einen kleinen Ladungsspeicher, von denen entweder nur der kleine Speicher oder beide zusammen genutzt werden. Solche Sensoren mit „Dual Conversion Gain“ (DCG) haben zwei umschaltbare Grundempfindlichkeiten, beispielsweise ISO 200 und 800.

Was aber ist mit den übrigen Empfindlichkeitsstufen?

Im Grunde könnte man die elektrischen Spannungen so, wie sie ausgelesen werden, digitalisieren und in einer Raw-Datei speichern. Ein aus den Rohdaten entwickeltes JPEG müsste lediglich in dem Maße aufgehellt werden, in dem der gewählte ISO-Wert über der Grundempfindlichkeit liegt. Der Raw-Konverter könnte aus dem in den Metadaten gespeicherten ISO-Wert ermitteln, welche Aufhellung nötig ist. Tatsächlich gehen Kameras typischerweise anders vor und verstärken die analogen Signale um das Verhältnis zwischen gewählter Empfindlichkeit und Grundempfindlichkeit, bevor sie digitalisiert werden. Die zusätzliche Verstärkung erhöht zwar auch das bereits vorhandene Rauschen, aber sie verringert das danach entstehende Ausleserauschen.

Erst bei sehr hohen ISO-Werten, bei denen das Sensorrauschen das Ausleserauschen ohnehin überdeckt, wird nicht mehr analog verstärkt, sondern die digitalen Werte mit einem entsprechenden Faktor multipliziert. Moderne Sensoren mit auf den Sensorchip integrierten Analog/Digital(A/D)-Wandlern haben allerdings ein so geringes Ausleserauschen, dass eine Verstärkung kaum noch Vorteile bietet. Zudem hat sie den Nachteil, dass sie den Dynamikumfang reduziert, denn die hellsten Lichter können dann den A/D-Wandler übersteuern. Es ist so, als wollte man mit einem empfindlichen Mikrofon weit entfernte Geräusche aufnehmen und daher den Aussteuerungsregler bis zum Maximum aufdrehen – wenn dann jemand direkt neben dem Mikrofon spricht, wird die Aufnahme übersteuert.

Nur Fuji hat daraus die Konsequenzen gezogen und bei vielen Kameramodellen auf eine Verstärkung über ISO 1600 hinaus verzichtet – Aufnahmen mit ISO 1600, 6400 oder 12.800 erzeugen Raw-Dateien mit identischen Rohdaten. Allein die Exif-Metadaten zeigen an, gemäß welchen ISO-Werts belichtet wurde, und geben dem Raw-Konverter damit einen Anhaltspunkt, wie stark das entwickelte Bild aufgehellt werden muss. In den JPEGs wird die Helligkeit schon in der Kamera dem ISO-Wert angepasst.

Die ISO-Einstellung fast aller Kameras lässt auch die Wahl von ISO-Werten unterhalb der Grundempfindlichkeit des Sensors zu. Die daraus resultierende reichliche Belichtung verringert das Rauschen in den Schatten, führt aber – kontrastarme Motive ausgenommen – zu einem Verlust an Lichterzeichnung. Die Kamera wendet bei solchen Pull-ISO-Stufen eine spezielle Gradationskurve an, die Schatten und Mitten absenkt und damit trotz der Überbelichtung für eine normale Tonwertverteilung sorgt. Wegen des verringerten Dynamikumfangs zu den Lichtern hin können solche niedrigen ISO-Werte kein ND-Filter ersetzen, wenn man trotz großer Helligkeit weiter aufblenden oder länger belichten möchte.

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