The Family of Man: Eine Legende wird 70

Sie wurde in 150 Museen auf der ganzen Welt
gezeigt und gilt als meistgesehene Fotoausstellung der Welt. Und doch gilt „The Family of Man“ für viele noch immer als Geheimtipp. 2025 wird die Ausstellung, mit der Kurator Edward ­Steichen die Welt ein bisschen besser machen wollte, 70 Jahre alt.

Damian Zimmermann

Damian Zimmermann ist leitender Redakteur beim fotoMAGAZIN.

Auch der berühmte Garry Winogrand ist mit diesem Foto „Coney Island, New York“ aus dem Jahr 1952 in der Ausstellung „The Family of Man“ vertreten.

Auch der berühmte Garry Winogrand ist mit diesem Foto „Coney Island, New York“ aus dem Jahr 1952 in der Ausstellung „The Family of Man“ vertreten.

© The Estate of Garry Winogrand, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Wie nähert man sich einer Ausstellung, der das Prädikat „legendär“ anhaftet? Die man betritt wie einen Tempel und eine Zeitkapsel; die man sich anschaut wie ein Magazin, wie ein Völkerkundemuseum und wie ein Familienalbum; die den Betrachter offen-naiv belehren will und gleichzeitig von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde; die in 150 Museen weltweit zu sehen war und von der sich einzelne Fotografien auf den Golden Records an Bord der beiden Voyager-Raumsonden befinden, die seit 1977 unterwegs sind und bereits unser Sonnensystem verlassen haben; die bereits zehn Millionen Menschen gesehen haben und die dennoch für viele ein Geheimtipp ist.

Eine Ausstellung, die die Welt noch nicht gesehen hat

Am besten mit Ehrfurcht und Respekt, natürlich. Aber auch mit Neugier und Interesse, mit Skepsis und Empathie. Und nicht zuletzt mit dem Herzen. Denn genau darum ging es Edward Steichen, als er als Fotografie-Direktor des Museum of Modern Art (MoMA) in New York Ende der 1940er Jahre mit der Planung für die Ausstellung „The Family of Man“ begann. Eine Ausstellung, die die Welt nicht nur noch nicht gesehen hatte, sondern mit der er sie sogar zu einem besseren Ort machen wollte – und die noch heute in dem luxemburgischen Städtchen Clervaux, nur zwei Autostunden von Köln und drei von Mannheim entfernt, als Dauerausstellung zu sehen ist.

Steichen, der selbst zu den großen Fotografen seiner Zeit zählte, glaubte an eine universelle Sprache der Fotografie und wollte mit ihrer Hilfe das Verständnis zwischen den Menschen fördern. „The Family of Man“ versteht sich daher als Manifest für den Frieden und die fundamentale Gleichheit aller Menschen – nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges ein naheliegendes und doch unmögliches Ziel, mit dem Steichen eigentlich nur scheitern konnte.

Gleichzeitig vertrat Steichen, der alles daransetzte, das Medium Fotografie in der Kunst zu etablieren, bei diesem Mammutprojekt einen äußerst demokratischen Ansatz: Jeder, egal ob Profi- oder Hobbyfotograf, konnte und sollte seine Fotos einreichen. Steichen wollte mit „The Family of Man“ ein möglichst breites Spektrum des Menschseins abbilden. Kriterien gab es natürlich dennoch: Die Bilder mussten ein humanistisches Menschenbild vermitteln und frei von Propaganda für oder gegen jede Art von politischer Ideologie sein.

„The Family of Man“ – der Auswahlprozess

Gemeinsam mit seinem Assistenten, dem Fotografen Wayne Miller, und vier weiteren Mitarbeitern wählte Steichen aus insgesamt vier Millionen Bildern zunächst 10.000 und in einem zweiten Schritt die finalen 503 Fotografien aus, die sie schließlich 1955 im MoMA zeigten. Die Bilder stammen von 273 Fotografen aus 68 Ländern.

Dass Steichen eine so ungewöhnlich große Auswahl zur Verfügung hatte (zum Vergleich: Beim World Press Photo Award 2024 musste die Jury „nur“ aus rund 60.000 Bildern wählen), lag allerdings auch daran, dass Wayne Miller Zugang zu den Archiven des „Life“-Magazins und der Agentur Magnum hatte, die in der Ausstellung auch entsprechend überrepräsentiert sind: Elliott Erwitt, Eve Arnold, Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, David Seymour, Ernst Haas und Werner Bischof sind genauso vertreten wie Alfred Eisenstaedt, Margaret ­Bourke-White, W. Eugene Smith und Andreas Feininger. Aber auch Ikonen wie August Sander, Dorothea Lange, Garry Winogrand, Herbert List, Robert Frank, Irving Penn, Ed van der Elsken und Robert Doisneau finden sich unter den Ausgestellten.

Teil der Ausstellung „The Family of Man“: „Drum Major“ von Alfred Eisenstaedt – der Tambourmajor der Marschkapelle der Universität von Michigan probt, bewundernde Kinder reihen sich ein. © Getty Images

Teil der Ausstellung „The Family of Man“: „Drum Major“ von Alfred Eisenstaedt – der Tambourmajor der Marschkapelle der Universität von Michigan probt, bewundernde Kinder reihen sich ein.

© Getty Images

Gleichzeitig kann man Steichens Anspruch, auch Nicht-Profis zu zeigen, als gescheitert betrachten. Zwar stammen 30 Prozent der eingereichten Bilder von Hobbyfotografen, in der Ausstellung selbst sank die Quote dann allerdings auf etwa fünf Prozent, also lediglich knapp 25 Fotografien. Viel Kritik musste Steichen vor allem für das westliche Weltbild, das in der Ausstellung vermittelt wird, einstecken: Die Bilder aus Afrika, Asien und dem Vorderen Orient wurden überwiegend von europäischen und amerikanischen Fotografen aufgenommen, außerdem sind zwei Fünftel aller Fotos in den USA selbst entstanden. Diversität sieht anders aus.

„The Family of Man“ – sieben Jahre auf Welttournee

Doch dies alles tat dem enormen Erfolg der Ausstellung keinen Abbruch: Nach der Schau im MoMA von Januar bis Mai 1955 reiste „The Family of Man“ sieben Jahre lang um die ganze Welt und wurde in 150 Museen auf vier Kontinenten gezeigt. Um das Ganze überhaupt logistisch schultern zu können, gab es insgesamt zehn Versionen der Ausstellung, die nach einem von Steichen penibel festgelegten Muster aufgebaut werden mussten.

Sein kuratorisches Konzept ließ nicht viel Spielraum, teilweise waren die auf Holzplatten aufgezogenen Bilder markiert und mit Befestigungen bestückt, sodass gar keine andere Hängung möglich war. Das galt vor allem für seine „Bild in Bild“-Präsentationen, für die er auf ein bis zu drei mal vier Meter großes Foto ein zweites, wesentlich kleineres Bild als Akzent darauf platzierte. Aus heutiger Sicht wirkt das äußerst modern, denn seit großformatige Fototapeten Einzug in Museen gehalten haben, wird auch dort oft mit diesen Kombinationen gearbeitet. Steichen selbst orientierte sich bei seiner Gestaltung allerdings eher an der Ästhetik von Magazinen, und überhaupt verstand er sich häufig mehr als Editor denn als Kurator und beschnitt die Bilder nach seinem Gusto.

Das wiederum ist heute vollkommen unvorstellbar, wobei Steichen mit seinem herrischen Habitus schon damals nicht nur auf Gegenliebe stieß. Der berühmte Landschaftsfotograf Ansel Adams war jedenfalls entsetzt von Steichens unsensiblem Umgang mit seinem Bild und verlor auf Jahre das Interesse am MoMA.

„The Family of Man“ in 37 Kapiteln

Dennoch entsprach die Präsentation der Ausstellung in gewisser Weise auch dem damaligen Zeitgeist: Steichen hatte die Ausstellung in 37 Themenkapitel wie Geburt, Liebe, Hochzeit, Familie, Arbeit, Kinder, Freizeit, Kultur, Glaube und Tod unterteilt und so in Szene gesetzt, dass der Betrachter wie durch ein fotografisches Essay spazierte. Er wollte möglichst viele Aspekte des menschlichen Lebens abbilden und zeigte deshalb auch unterschiedliche kulturelle Varianten der gleichen Zeremonien und Rituale, aber auch Freizeitvergnügen und kindliche Spielereien. Die Botschaft dahinter war offensichtlich: Alle Menschen sind gleich und haben die gleichen Bedürfnisse – also hört endlich auf, euch die Köpfe einzuschlagen.

Subtil ging es dabei eher selten zu – Steichen wollte verstanden werden, in den USA genauso wie in Europa, Asien und Afrika: Er zeigt Liebespaare beim Küssen, Sich-­Umarmen und Auf-der-Wiese-Liegen, Hochzeitsbräuche, Schwangerschaften und sogar das spektakuläre Bild eines Neugeborenen: Das Bild stammt von Wayne Miller, der die Geburt seines Sohnes fotografierte.

Ein Thema kommt in „The Family of Man“ allerdings kaum vor: der Krieg. Es gibt nur wenige Ausnahmen wie zwei Fotos von toten Soldaten im Schützengraben sowie ein sehr zentrales Foto einer Atombombenexplosion gegen Ende der Ausstellung, das allerdings beim Staatsbesuch in Japan aus Pietät verhüllt wurde und auch nicht im Ausstellungskatalog abgebildet ist. Die Ausstellung endet schließlich mit dem Bild der UN-Vollversammlung und einer Schar von fröhlichen, hoffnungsvollen Kinderfotos. Wie bereits erwähnt: Subtil sieht anders aus.

Eugene Harris Foto eines peruanischen Flötenspielers aus dem Jahr 1955 diente als Titelbild der Ausstellung „Family of Man“, die 1955 von Edward Steichen für das Museum of Modern Art kuratiert wurde.

Eugene Harris Foto eines peruanischen Flötenspielers aus dem Jahr 1955 diente als Titelbild der Ausstellung „Family of Man“, die 1955 von Edward Steichen für das Museum of Modern Art kuratiert wurde.

© Eugene Harris, Popular Photography

„The Family of Man“ kommt nach Luxemburg

Dass Steichen weitgehend auf Kriegsmotive verzichtet hat, liegt daran, dass er vor „The Family of Man“ bereits drei Ausstellungen im MoMA zum Thema Krieg gezeigt hatte. Dabei stellte er frustriert fest, dass er eine abschreckende Wirkung lediglich während des Besuches beobachten konnte, eine Ausstellung die Besucher aber nicht zu einer Verachtung des Krieges generell veranlassen konnte. Statt mit einem negativen wollte er deshalb nun mit einem positiven, das Leben und die Lebensgemeinschaft bejahenden Grundgefühl an sein Mammutprojekt herangehen. Auch hier wird seine klare aufklärerische Absicht, die er für sich als Kurator in Anspruch nahm, deutlich.

Der Erfolg der Wanderausstellungen bewog Steichen schließlich dazu, „The Family of Man“ auch dauerhaft an einem Ort zu präsentieren – er wünschte sich dafür das Schloss von Clervaux in seinem Geburtsland Luxemburg. 1966 kamen die Vereinigten Staaten diesem Wunsch nach und schenkten die letzte zusammenhängende Version der Ausstellung ganz offiziell dem Großherzogtum, wo sie seit 1994 präsentiert wird.

Damit ist sie die am längsten laufende Fotoausstellung der Welt. Und auch wenn man sie aus heutiger Sicht vielleicht etwas naiv und nicht divers genug finden mag, hat sie in Anbetracht der turbulenten und unsicheren Zeiten auch nach 70 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren.

Einblicke in die Ausstellung „The Family of Man“

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