Susan Meiselas

Die amerikanische Magnum-Fotografin Susan Meiselas über die Notwendigkeit, immer wieder zurückzublicken, Foto-Ikonen und die Egozentrik mancher Kollegen.

Manfred Zollner

Manfred Zollner

Chefredakteur fotoMAGAZIN

Meiselas-Portrait

Das in über 50 Jahren entstandene Werk der Magnum-Fotografin Susan Meiselas (Foto) wird jetzt erstmals in einer großen deutschen Retrospektive bei c/o Berlin vorgestellt.

Foto: © Meryl Levin

Zum Start ihrer großen Retrospektive bei C/O Berlin vom 30. April bis 9. September 2022: Ein Gespräch mit Susan Meiselas über Bildikonen, die Fotografenvereinigung Magnum und ihre Abneigung gegenüber der neuen Subjektivität im Bildjournalismus.

fotoMAGAZIN: Sie haben zu Beginn Ihrer Karriere einige Fotokurse gegeben, bevor Sie selbst Fotografin wurden. Hat sich durch diese Tätigkeit Ihr Zugang zur Fotografie verändert?
Susan Meiselas: Ich habe mich damals noch nicht mit Fotografen identifiziert, sondern mochte einfach die Fotografie. Das änderte sich erst mit meiner Arbeit an den „Carnival Strippers“. Damit hatte ich eine Daseinsberechtigung gefunden, einen Grund, warum ich fotografierte. Selbst dieses Projekt fotografierte ich überwiegend im Sommer. Es war nichts, mit dem ich vollbeschäftigt war.

fotoMAGAZIN: Stimmt es, dass Sie zunächst noch eine ziemlich schüchterne Fotografin waren?
Susan Meiselas: Ich glaube, das bin ich immer noch, aber vielleicht nicht mehr ganz so schüchtern wie damals. Schüchtern bedeutet, dass es mir schwerfällt, einen Weg zu finden, Fremde zu fotografieren. Ich brauche meine Zeit, um mich jemandem zu nähern.

Vielleicht mochte ich deshalb die Street Photography nicht. Das war mir viel zu sehr „rangehen und gleich wieder verschwinden“. Da hast du keine Beziehung aufgebaut, dir nur etwas genommen und nichts zurückgegeben. Das ist mir jedoch immer wichtig.

„Als ich 1976 zu Magnum kam, kannte ich noch nicht einmal Cartier-Bresson.“

fotoMAGAZIN: Gleich zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie die „Carnival Strippers“ als Sujet gewählt. Kostete Sie dieses Thema als schüchterner Mensch nicht besonders viel Überwindung?
Susan Meiselas: Ich habe zunächst wie alle anderen den Stripperinnen bei der Show zugeschaut und hatte keine Ahnung, wie deren Leben war – bis zu dem Zeitpunkt, als ich in ihre Umkleide ging und hinter die Kulissen blickte.

fotoMAGAZIN: War es damals schwieriger für eine Frau, Zugang zu bekommen?
Susan Meiselas: Die Arbeit auf dem öffentlichen Jahrmarktgelände war nicht schwierig. Sobald mich dann die Frauen in ihre Welt einluden, wurde ich ein Teil von dieser. Das ist alles ganz organisch gewachsen. Ich war ganz sicher neugierig auf deren Leben.

Heute kann man sich das alles kaum mehr vorstellen, denn jetzt wären diese Frauen von jedem Zuschauer exzessiv mit iPhones geknipst worden. Damals war das jedoch noch eine verborgene Welt. Das Verbot, dass Frauen hier keinen Zugang hatten, forderte mich nur noch mehr heraus. Ich wollte sehen, was hinter dem Vorhang war.

fotoMAGAZIN: Bereits im Alter von 27 Jahren wurden Sie kurz darauf in die berühmte Bildagentur Magnum aufgenommen. Welche Vorstellung hatten Sie von dieser Fotografenvereinigung, als Sie Gilles Peress dort 1976 einführte?
Susan Meiselas: Ich wusste absolut nichts über Magnum und kannte nicht einmal Henri Cartier-Bresson. Es ist schwer zu glauben, doch ich hatte nie etwas über die Geschichte der Fotografie gelernt. Ich hatte auch überhaupt keine Vorstellung, wie diese Kooperative arbeitete.

Gilles hatte ich bei einem meiner ersten Jobs getroffen: bei der Party Convention der US-Demokraten im Jahr 1976. Das war für mich ein ziemlich ungewöhnlicher Ort. Ich lernte erst, mit solch einem Großevent umzugehen. Gilles war vermutlich überrascht, dass ich in aller Stille mit den Stripperinnen dieses ziemlich große Werk geschaffen hatte. Niemand hatte diese Bilder zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht. Ich konnte ihm also viel zeigen, als er mich fragte, was ich sonst so machte.

fotoMAGAZIN: Wie hat sich Magnum seit jenen Tagen verändert?
Susan Meiselas: Ich habe mich verändert und Magnum hat sich verändert. Magnum war damals viel kleiner. Hier arbeiteten etwa 22 bis 25 Fotografen. Die Frauen hier waren alle richtig starke Typen: Mary Ellen Mark, Eve Arnold, Inge Morath – allesamt ausgeprägte Charaktere und sehr von sich überzeugt.

fotoMAGAZIN: War das ein Charakteristikum, das generell für die Magnum-Fotografen jener Tage galt?
Susan Meiselas: Wir hatten nicht viel Zeit, um gemeinsam abzuhängen, da wir alle ständig unterwegs waren. Magnums Aufenthaltsraum der Fotografen war für mich wirklich eine Lehrstube. Hier hast du immer jemanden getroffen, der gerade von irgendwo herkam oder auf dem Weg zu einem Job war.

Wie bereitest du dich auf einen Ort vor, an dem du noch nie warst? Ich lernte viel von denen, die mir halfen, 1977 die Tasche für meinen ersten Trip nach Kuba zu packen. Es half mir auch, Eve Arnold zu beobachten, wie sie ihre Reisen plante. Die Kollegen betrachteten meine Aufnahmen, erzählten mir, was sie in den Bildern lasen und halfen manchmal bei der Bildauswahl.

Wenn Sie mich jetzt fragen, was heute anders ist: Magnum ist mittlerweile doppelt so groß. Die Leute haben sich mehr von der Basis entfernt. Heute gibt es eine größere Vielfalt in den stilistischen Ansätzen, doch ein großes Spektrum hatten wir immer.

Manche Fotografen sahen sich eher in einer bestimmten Tradition. Es gab immer die Henri Cartier-Bresson-Tradition und die Robert Capa-Tradition. Manche machten Scherze darüber, ob du eher formalistisch ausgerichtet warst oder ein „engagierter“ Fotograf.

Unsere Fotografen befanden sich alle in diesem Spektrum. Noch heute suchen wir nach neuen Mitgliedern, die eben nicht das Gleiche machen. Sie sollen etwas Neues in unser visuelles Vokabular einbringen.

fotoMAGAZIN: Und wie haben Sie sich über die Jahre bei Magnum verändert?
Susan Meiselas: Ich kann ehrlich nicht sagen, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht zu Magnum gegangen wäre. Das „Carnival Strippers“-Projekt ist ein Beispiel dafür, dass ich davor bereits sehr unabhängig war, nicht direkt mit den Medien zusammenarbeitete.

Es war eine große Veränderung für mich, als ich nach Nicaragua ging. Die kommende Revolution war nicht vorhersehbar. Und danach blieb ich dann ein Dutzend Jahre in Lateinamerika. Die Presse war immer ein Partner bei meiner Arbeit, doch ich definiere mich nicht als jemand, der für die Presse arbeitet.

Ich habe mit Magnum ein sehr unabhängiges Arbeitsumfeld gewählt. Dort arbeite ich nicht für einen einzelnen Kunden, sondern verbreite meine Bilder immer über mehrere Plattformen. Hier machten die Fotografen Bücher, die ihnen immer wichtiger waren als jede Veröffentlichung in Zeitschriften.

Vermutlich wäre ich nicht so viel im Ausland gereist, wenn ich nicht zu Magnum gegangen wäre. Da Magnum ein starkes Support-System hatte, konnte ich von überall meine Filme zurückschicken. Die Bilder wurden dann gesichtet und vermarktet. Das „Echo-System“ funktionierte damals: Selbst wenn du nicht im Auftrag unterwegs warst, konntest du von dem leben, was die Reproduktion deiner Fotos in Zeitschriften einbrachte.

„Magnums Aufenthaltsraum der Fotografen war für mich wirklich eine Lehrstube.“

fotoMAGAZIN: Während Sie in Nicaragua waren, wurde dort gerade Weltgeschichte geschrieben. Verändert sich die eigene Perspektive auf die Nachrichten, wenn man direkt dabei ist?
Susan Meiselas: Ich denke dieser Tage genau darüber viel nach. Vierzig Jahre später gibt es wieder Straßenunruhen und viele haben mir geschrieben, sie sähen plötzlich, wie meine Bilder täglich wieder neu im Alltag auftauchen. Damals wusste keiner, was da gerade passierte. Einer der Gründe, warum ich zunächst angereist bin war, dass es über diesen Ort noch kaum etwas Visuelles gab.

Durch unser digitales Zeitalter hat es so viel Disruption gegeben. Nun sind viel mehr Menschen als je zuvor mit Kameras unterwegs. Zugleich gibt es weniger Fotografen, die Langzeitreportagen machen. Damals war es ungewöhnlich, irgendwo länger zu bleiben.

Es gab Agenturen, die ihre Fotografen für ein paar Tage anreisen ließen. Heute leben die Fotografen an dem Ort, über den sie berichten. Das ist eine fundamentale Veränderung und sehr wichtig. Etwas, das ich mein Leben lang unterstützt habe, war, dass Fotografen vor Ort ausgebildet werden.

Sie fragten jedoch nach etwas anderem. Ich merkte damals, dass Geschichte geschrieben wurde und mich interessierte nicht, was passierte, sondern welche Auswirkung das auf die Zukunft haben würde. Dieses Gefühl einer Dringlichkeit, einer Bewegung, ohne dass jemand wusste, wohin sich alles entwickelte! Doch das wissen wir heute auch nicht. Heute könnte man denken, dass sich alles innerhalb von einem Tag, einer Woche, eines Monats oder eines Jahres verändern kann.

fotoMAGAZIN: Ist es heute leichter oder schwieriger geworden, ein Forum für seine Bilder zu finden?
Susan Meiselas: Einerseits ist es leichter. Du hast jetzt direkte Vertriebswege, doch bei einigen der offensichtlichsten (wie Facebook und Instagram) mache ich nicht mit. Ich verstehe, wie viel Einfluss sie beim Aufbau von Networks haben. Dennoch bin ich noch immer ein analog denkender Mensch – soviel ich auch digital arbeite. Ich mag das Taktile eines Fotos.

Ich bin jedoch genauso wie alle anderen von unserer Digitalwelt abhängig. Ich stamme nicht aus der Generation, die digital berichten musste. Das ist ein anderer Ansatz. Das Simultane im digitalen Arbeiten könnte durchaus spannend sein, aber das war einfach nicht meine Erfahrungswelt.

fotoMAGAZIN: Sie haben immer Wert darauf gelegt, Ihre Projekte mit zeitlichem Abstand erneut zu betrachten ...
Susan Meiselas: Der Blick zurück gibt dir ein Gefühl dafür, wo du warst. Wie stark er sich auf meine Zukunft auswirkt, kann ich nicht sagen.

Manchmal warte ich darauf, dass ich mich bereit fühle, zu einem Thema, einem Ort zurückzukommen. Das könnte dann so ähnlich funktionieren wie in Nicaragua, aber das hat sich dort quasi von alleine entwickelt, als ich wieder anreiste. Dann wollte ich wissen, was aus den Menschen geworden ist, die in meinen alten Fotos waren.  

fotoMAGAZIN: Sie erwähnten, dass Ihnen Menschen heute Bilder schicken, die sie an Ihre alten Fotos erinnern ...
Susan Meiselas: Jemand hat mir gerade ein neues Foto des „Molotov-Mannes“ geschickt. Da hatte keiner mein Bild nachgestellt – es war einfach jemand, der aussieht wie mein „Molotov-Mann“.

fotoMAGAZIN: Was macht ein Foto wie dieses zur Ikone?
Susan Meiselas: Wir ziehen nicht los, um Ikonen zu produzieren. Vermutlich merken wir es zunächst nicht einmal, dass wir eine Ikone fotografiert haben. Beim „Molotov-Mann“ kapierte ich die Ikonisierung, als ich ein Jahr später zurückkam und sein Bildnis wiederentdeckte.

Zum ersten Jahrestag der Revolution wurde es neu verwertet. Er war Ihr Held, er war in diese Sache komplett verwickelt. Ich weiß nicht, wer diese kleinen Bilder von ihm auf Streichholzschachteln drucken ließ. Das war jedoch der Anfang. In den letzten 30 Jahren ist dieses Motiv an vielen anderen Stellen aufgetaucht. Es fand sich auf Graffiti und in Gemälden. Der „Molotov-Mann“ wurde ein Symbol der Volksarmee, die gegen die Contras kämpfte.

fotoMAGAZIN: Macht das Symbolhafte eines Fotos einen wichtigen Aspekt seiner späteren Ikonisierung aus?
Susan Meiselas: Vermutlich nicht immer. Wenn die Menschen über die ikonischen grünen Augen von Steve McCurrys „Afghan Girl“ sprechen, weiß ich nicht, ob dieses Bild symbolhaft ist. Sie ist hübsch, sie ist so ins Bild gesetzt, dass wir uns an sie erinnern. Wäre sie heute eine Ikone, wenn sie nicht auf dem Cover von Zeitschriften und von einem Buch gelandet wäre?

fotoMAGAZIN: Ein weiterer Aspekt einer Ikone scheint mir, dass sie in unterschiedlichem Kontext verwertbar ist. Sie wächst auf eine ganz eigene Art mit der Zeit.
Susan Meiselas: Sie verändert sich. Beim „Molotov-Mann“ bin ich mir nicht sicher: Hätte jemand an ihn gedacht, wenn ich nicht selbst dokumentiert hätte, was aus dem Bild geworden ist? Natürlich haben ihn die Sandinistas als Symbol der Revolution eingesetzt – vom 25. bis zum 30. Jubiläum. Aber ich habe das erst sichtbar gemacht, indem ich die Reproduktionen dieses Motivs dokumentierte – bis zum Denkmal in seiner Heimatstadt. Mich interessiert noch immer, wer der Mann hinter dem Symbol ist.

fotoMAGAZIN: Sie feierten am 21. Juni 2018 Ihren 70. Geburtstag. War dieses runde Jubiläum für Sie ein Grund, zurück auf Ihre Karriere zu blicken?
Susan Meiselas: Meinen ersten Karriere-Rückblick hatte ich 2008 und jetzt ist gerade ein zweiter gefolgt. Das drängt mich, auf mein Leben zu blicken und darüber nachzudenken, welche Entscheidungen ich getroffen habe. Dieses Aufsuchen der Vergangenheit ist sehr produktiv. Es regt mich an, tiefer zu graben. Ich will verstehen, welche Konsequenzen meine Entscheidungen hatten.

fotoMAGAZIN: Bereuen Sie im Rückblick etwas?
Susan Meiselas: Nein. Es gibt vielleicht Weggabelungen, bei denen ich eine Entscheidung treffen musste. Ich habe meine Entscheidungen durchgezogen, aber etwas ist dadurch unvollendet geblieben. Es gibt eine Reihe unvollendeter Dinge. Ich weiß nicht, ob ich sie noch voranbringen kann.

Vielleicht kannst du zurückkehren aber das einmal Verpasste kannst du nicht immer nachholen. Es geht hier also letztlich um das Vermissen. Ich bin keine, die rekonstruiert und nacherlebt oder sich immer wieder etwas vorstellt. Ich muss zu einer Sache einen neuen Bezug aufbauen, um eine Arbeit zu entwickeln.

„Wenn ich heute neu anfangen würde, würde ich wohl direkt zum Film gehen.“

fotoMAGAZIN: Ist es wichtig, zurückzublicken, um anders in die Zukunft zu schreiten?
Susan Meiselas: Ich bin momentan in einer seltsamen Situation. Ich habe eine große Retrospektive im Pariser Musée Jeu de Paume (6. Februar bis 20. Mai 2018) und diese Ausstellung kommt nun zum MoMA in San Francisco (21. Juli bis 21. Oktober 2018). Dort habe ich eine Nicaragua-Installation, die ganz zentral sein wird.

Erstmals stellte ich sie 1982 zusammen mit Arbeiten von 1978/79 aus. Nun wird ein Teil nachgebaut. Das fühlt sich an wie ein Blick in die Vergangenheit. Dennoch werden viele diese Installation sehen und dabei stärker mit dem verbunden, was heute passiert. Ich vermute, viele haben keine Erinnerungen. Wir schleppen jedoch 40 Jahre Geschichte mit uns herum.

Letzte Nacht habe ich eine E-Mail von jemandem bekommen, der meinte, seine Studenten könnten sich keine Bilder von Nicaragua ansehen, ohne an meine Bilder zu denken. Das kam jedoch von einem Fotohistoriker, nicht von einem Durchschnittsbürger.

Ich weiß nicht, was nötig ist, damit sich die westliche Welt dem widmet, was heute in Nicaragua passiert. Es gibt bereits mindestens zehn andere Orte, die sie auch nicht bekümmern. Sie stellen also eine ganz grundlegende Frage. Du trägst deine Geschichte mit dir herum – weil du sie durchlebt hast, weil du zum Zeitzeugen wurdest oder schlicht in einer gewissen Zeit lebst. Du denkst jedenfalls danach über die Dinge anders. Sei es mein eigenes Bildarchiv oder die Geschehnisse meiner Zeit – beide prägen meine Gedanken.

fotoMAGAZIN: Sie haben früh mit dem Medium Film gearbeitet und auch immer wieder Tonaufzeichnungen gemacht. Was brachte Sie stets zur Fotografie zurück?
Susan Meiselas: Ich finde noch immer, dass Fotografieren für mich die wichtigste Form der Begegnung ist. Das hängt allerdings vom historischen Zeitpunkt ab und der Technologie, die mir zur Verfügung stand. Wenn ich heute neu anfangen würde, würde ich wohl direkt zum Film gehen.

Deine Arbeitsmittel prägen dich. Ich habe den Film für einen retrospektiven Blick eingesetzt, indem ich zum Beispiel nach den Menschen in meinen Fotos suchte. Film hat etwas, das die Menschen stärker involviert. Fotos können länger wirken, sie graben sich in uns ein, aber bei einem Film lassen sich die Zuschauer für die Dauer eines Streifens völlig auf die Handlung ein.

fotoMAGAZIN: Sie sagten mal, bei der Fotografie sollte es nicht um den Fotografen gehen. Steckt nicht immer die Persönlichkeit des Fotografen hinter einem Bild?
Susan Meiselas: Auf gewisse Art schon, aber das ist nicht mein Fokus. Ich bin keine Person, die beim Fotografieren etwas wie ein Spiegel reflektiert, sondern jemand, der sich aus dem Fenster lehnt und sich umsieht. Ich möchte in eine Welt eintreten, die anders ist als die, in der ich lebe.

Natürlich bin ich in jedem Bild auch irgendwie zugegen, aber gleichzeitig auch abwesend. Heute gibt es so viel Subjektivität in der Fotografie. Die Leute scheinen sich mehr für sich als für andere zu interessieren. So bin ich nicht.

fotoMAGAZIN: Sie sagen, dass Sie vermutlich Ihre Fotos von Nicaragua auf Instagram gepostet hätten, hätte es in den 1970er-Jahren diese Plattform gegeben. Warum denken Sie das?
Susan Meiselas: Ich wollte damit nur sagen, dass ich im Unterschied zu vielen Freunden und Kollegen Instagram nicht auf dem Schirm habe. Die Unmittelbarkeit der Plattform hätte mich aber in einem speziellen Kontext angezogen.

Ansonsten empfinde ich das Posten von Fotos dort ein wenig so, als wären alle dort Rattenfänger. Mich interessiert nicht, ob mir viele Leute folgen. Wenn ich heute mitten in einem Massaker mit einer Digitalkamera stünde, würde ich vielleicht meine Bilder sofort uploaden. Ich könnte jedoch auch Angst haben, dass jemand wüsste, ich hätte die Fotos und das würde mich in Gefahr bringen.

Die Menschen denken nicht so viel darüber nach, wie Bilder um die Welt reisen. Vielleicht bin ich auch übervorsichtig, was die Distribution betrifft. Ich möchte Rezeptions-Umgebungen, in denen die Betrachter Fotos besser und ganz ruhig erfahren. Ständig sehe ich, wie sich Menschen auf ihren Smartphones mit einem Fingerwischer durch tausende Bilder bewegen. Das spricht mich nicht an.

Dieses Gespräch haben wir am 2. Juni 2018 während des Fotobookfestivals in Kassel aufgezeichnet.

Die Berliner Retrospektive "Susan Meiselas Mediations" ist vom 30. April bis 9. September 2022 bei C/O Berlin zu sehen.

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