Mads Nissen: „Ich muss spüren, dass meine Fotos etwas bewirken können.“

Der Fotograf des Jahres beim renommierten „World Press Photo“-Wettbewerb ist der dänische Fotograf Mads Nissen. Wir haben mit ihm über die Suche nach guten Fotos, die Gefahren des Jobs und sozial-politisches Engagement gesprochen.

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Porträt Mads Nissen

Mads Nissen hat bereits zwei Mal den World Press Photo Award gewonnen.

© Morten Rode

Interview: Jesper Storgaard Jensen

Ein paar Tage vor unserem Interview im Juli 2021 hat Mads Nissen den renommiertesten Fotowettbewerb für Bildjournalisten gewonnen. Es ist bereits das zweite Mal (nach 2015), dass er bei den „World Press Photo Awards“ (WPP) den Hauptpreis für das beste Pressefoto der Welt bekommen hat. Insgesamt wurde er dort bereits fünfmal ausgezeichnet. Für viele Experten gilt er heute als einer der besten Pressefotografen unserer Zeit.

World Press Photo 2015

World Press Photo 2021. Nissens Symbolbild zum Corona-Jahr: Eine Pflegerin umarmt die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi in einem brasilianischen Altenheim durch einen Plastikvorhang.

© Mads Nissen/Politiken/Panos Pictures

fotoMAGAZIN: Mads, was können Sie uns über Ihr Siegerfoto erzählen?
Mads Nissen: Ich habe dieses Bild im Sommer 2020 in einem Pflegeheim im stark von der Corona-Pandemie gezeichneten Brasilien aufgenommen. Es zeigt die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi, die gerade von der Pflegerin Adriana Silva da Costa Souza durch einen durchsichtigen Plastikvorhang umarmt wird.

fotoMAGAZIN: Warum hatten Sie beschlossen, nach Brasilien zu reisen?
Mads Nissen: Zu dieser Zeit begannen die Dinge in Brasilien kompliziert zu werden – hauptsächlich wegen des schlechten Umgangs des Landes mit der Pandemie.

„Wenn du auf Distanz bleibst, strahlen deine Bilder das aus. Präsenz ist ganz entscheidend.“

Mads Nissen, World Press Photo Award-Gewinner

fotoMAGAZIN: Wie ist dieses Bild entstanden?
Mads Nissen: Bevor ich nach Brasilien reiste, hatte ich dort Absprachen mit zwei Pflegeheimen getroffen. Im ersten Heim merkte ich allerdings sofort bei meiner Ankunft, dass die Bedingungen zum Fotografieren schlecht waren. Die Räumlichkeiten waren zu ungepflegt und das Licht war wirklich schlecht. Also zogen wir sofort weiter zum nächsten Heim. Zum Glück hatten wir hier eine ganz andere Situation. Das Licht schien perfekt und ich spürte sofort, dass ich gute Aufnahmen machen konnte. Die Umarmung, die Rosa Lunardi durch den Plastikvorhang bekommt, war ihre erste seit fünf Monaten.

fotoMAGAZIN: Beim Beschreiben dieser Aufnahme haben Sie mal von Liebe und Emotionen gesprochen. Steckt noch etwas mehr dahinter?
Mads Nissen: Allerdings. Ich möchte, dass dieses Foto mit gemischten Gefühlen betrachtet wird. Denn darin verbirgt sich auch eine Kritik gegenüber dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsanaro, der das Corona-Problem nicht ernst genommen hat – weil er und seine Gesellschaftselite besser geschützt sind, als der Großteil der Bevölkerung.

fotoMAGAZIN: Sie haben eine größere Reportage in Brasilien fotografiert, in der Sie dokumentierten, wie Covid-19 das Land im Griff hat. Warum glauben Sie, dass gerade Ihre Aufnahme der Umarmung das WPP-Siegerfoto geworden ist?
Mads Nissen: Ich habe viele Fotos in Brasilien gemacht. Zum Beispiel auf einem Friedhof, an dem die vielen Covid-Opfer in langen Reihen nebeneinander begraben wurden, in den Favelas, in einem Krankenwagen und im Krankenhaus. Ein Siegerfoto ist meiner Meinung nach jedoch voller Emotionen – und jeder kann sich damit identifizieren.

fotoMAGAZIN: Wie gelingen Ihnen solche Fotos: Wie viel Vorbereitung steckt dahinter, wie viel Glück –  und wie viel Talent?
Mads Nissen: Es ist eine Mischung aus vielen Dingen. Die Recherche spielt meiner Meinung nach eine große Rolle. Nur mit Hilfe von Recherchen weißt du, wo ein gutes Foto machbar ist. Doch die Intuition ist auch wichtig. Sie gibt dir vor, wo du hingehen und nach einer guten Geschichte suchen musst. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Beharrlichkeit. Wenn deine Intuition dir sagt, dass es an einem bestimmten Ort eine gute Gelegenheit für Bilder gibt, dann solltest du darauf bestehen, diese gute Aufnahme zu bekommen. Und dafür musst du Geduld mitbringen.

„Meine Aufnahmen sind eine Einladung, darüber nachzudenken, wie die Welt aussieht.“

Mads Nissen, Fotograf

fotoMAGAZIN: Haben Sie schon einmal über den Unterschied zwischen der Kommunikation mit Worten und der mit Bildern nachgedacht?
Mads Nissen: Heute kann die politische Kommunikation oft sehr ermüdend sein. Politische Lösungen scheinen von einer einfachen Welt auszugehen. Doch leider ist die Welt kein einfacher Ort, wie wir wissen.

fotoMAGAZIN: Erklären uns Fotos also die Welt besser?
Mads Nissen: Ich verstehe meine Fotografie als Dialog mit den Betrachtern. Am meisten gefällt es mir, wenn die Leute bei meinen Ausstellungen über die Botschaft eines Fotos geteilter Meinung sind. Meine Aufnahmen sind eine Einladung, darüber nachzudenken, wie die Welt aussieht. Ich liefere die Fotos und anschließend muss der Betrachter selbst entscheiden, was er darüber denken will. Ich bin mir jedoch sehr bewusst, dass manche Fotos eine extrem starke Sprache besitzen, die weit über die der Worte hinausgehen kann – bei allem Respekt vor all denen, die mit dem geschriebenen Wort arbeiten.

fotoMAGAZIN: Im Jahr 2015 haben Sie den World Press Photo Award schon einmal gewonnen mit einem Bild aus Russland. Warum war damals gerade Russland besonders interessant für Sie?
Mads Nissen: Als ich nach St. Petersburg reiste, wurden Homosexuelle in Russland stark diskriminiert. Das ist leider auch heute noch so. Ich habe damals an einer Demonstration teilgenommen und irgendwann ging ein Mann auf einen Typen neben mir zu. ‚Bist du schwul?‘, fragte er ihn. ‚Ja, bin ich‘, antwortete dieser, woraufhin der Mann ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Ich war völlig schockiert.

fotoMAGAZIN: Ihr Gewinnerfoto von damals zeigt eine ziemlich intime Situation. Wie ist diese Aufnahme zustande gekommen?
Mads Nissen: Durch Zufall hatte ich Jon und Alex kennengelernt, ein junges russisches Schwulen-Paar. Die beiden haben mich zu sich nach Hause eingeladen. Als wir dort ankamen, fragte ich, ob ich sie fotografieren dürfe und sie akzeptierten. Ich sagte, sie sollten einfach so tun, als ob ich nicht da wäre. Und das taten sie auch, während ich meine Bilder schoss.

Eroberung von Ajdabiya

World Press Photo 2015. Ein intimer Moment im Jahr 2014 zwischen dem homosexuellen Paar Jon und Alex in Sankt Petersburg. In Russland werden Homosexuelle stark diskriminiert.

© Mads Nissen / www.madsnissen.com

fotoMAGAZIN: Wenn ich Ihre Fotos betrachte, dann wird mir klar, dass Sie gerne nah an die Motive herangehen. Ich muss dabei an den berühmten Satz des Fotografen Robert Capa denken: ‚Wenn deine Fotos nicht gut sind, liegt das daran, dass du nicht nah genug dran warst.‘ Ist das auch Ihre Philosophie?
Mads Nissen: Das ist definitiv so. Bei der Art von Fotos, die ich mache, muss ich nah dran sein. Man könnte sagen, dass die Fotografie eine unerbittliche Disziplin ist. Wenn du auf Distanz bleibst, strahlen das deine Bilder aus. Es geht um Präsenz – und diese Präsenz ist entscheidend für meine Fotos. Als ich beispielsweise in Libyen in einer Kampfzone war und die Möglichkeit hatte, über den Krieg zu berichten, musste ich mir die Frage stellen: ‚Was will ich hier wirklich anfangen, wenn ich nicht bis ganz nach vorne gehe, dort wo die Soldaten ihre Gewehre abfeuern?‘ Also bin ich natürlich losgezogen.

fotoMAGAZIN: Sie erwähnen Kriegssituationen: Hatten Sie schon öfter das Gefühl, dass Ihr Leben in Gefahr war?
Mads Nissen: Bereits mehrfach. Bei Erdbeben und kriegerischen Auseinandersetzungen, in gefährlichen Stadtvierteln –  und gerade eben in den Krankenhäusern mit Corona-Kranken. Wenn man sich auf die guten Geschichten einlässt, dann wird es dabei immer Risiken geben.

fotoMAGAZIN: Ich habe das Gefühl, dass Sie als Fotograf von einer starken ethischen Grundeinstellung angetrieben werden. Ist das richtig?
Mads Nissen: Lassen Sie mich es so formulieren: Ich suche nicht nach Projekten, die meine Karriere fördern. Lieber halte ich Ausschau nach Projekten, die eine starke Botschaft vermitteln. Ich brauche das Gefühl, dass ich an etwas Wichtigem arbeite. Dabei muss ich spüren, dass meine Fotos etwas bewirken können. Tatsächlich glaube ich, dass heute eine Generation junger Fotografen am Start ist, die stark politisch ausgerichtet ist. Nehmen Sie Themen wie „Black Lives Matter“, die Klimadiskussion oder mein Projekt mit der LGBTQ-Community in Russland. Diese Themen sind für viele junge Fotografen interessant. Also: Ja, meine Vorstellung von Moral und Ethik sind eine Antriebskraft.

fotoMAGAZIN: Gibt Ihnen der zweite WPP-Gewinn das Gefühl, etwas mit Ihren Bildern erreicht zu haben?
Mads Nissen: Ganz und gar nicht! Ich freue mich zwar über die Auszeichnung, doch das ist kein Endresultat. Es ist lediglich eine Form von Anerkennung. Wissen Sie, ich habe mit meiner Arbeit weder die Homophobie noch andere soziale Ungerechtigkeit abschaffen können. Mit einem Talent gesegnet zu sein, bedeutet auch, Verantwortung zu haben und das verpflichtet dich zu handeln, wenn es möglich ist. Genau das werde ich weiterhin tun.

Mads Nissen

Interview: Jesper Storgaard Jensen

Der Fotograf Mad Nissen

Der 41-jährige Bildjournalist Mads Nissen lebt in Kopenhagen. Er hat die „Danish School of Journalism“ absolviert und ist seit 2014 als Fotograf für die Tageszeitung Politiken tätig. In Dänemark ist er bereits dreimal als „Fotograf des Jahres“ ausgezeichnet worden. 2015 und in diesem Jahr gewann er bei den Amsterdamer „World Press Photo Awards“ den Hauptpreis mit dem „Photo of the Year“.

Foto: © Morten Rode

Zur Website des Fotografen: www.madsnissen.com

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