Sebastian Schlagenhaufer mit seiner Camera Minutera auf der Hofgartenstraße in München.
© Rudolf StumbergerTEXT: RUDOLF STUMBERGER
Die große Uhr am 87 Meter hohen Torre del Mangia auf dem Hauptplatz von Siena hat nur einen Stundenzeiger, die Minuten werden nicht angezeigt. „Das entschleunigt schon mal“, erinnert sich Sebastian Schlagenhaufer. Der 45-Jährige aus Grafing bei München war im Jahr 2021 knapp drei Wochen in der mittelalterlichen Stadt in der Toskana. Mit sich dabei hatte er einen ungewöhnlichen Apparat: eine Camera Minutera. Das ist im Grunde eine Sofortbildkamera. Wobei das „Sofort“ rund zehn Minuten dauert. So viel also zum Thema Entschleunigung. Und wer jetzt meint, bei Schlagenhaufers Kamera handele es sich um eine Polaroid, der irrt. Nein, der Holzkasten, mit dem der Münchner unterwegs war, ist Kamera und Entwicklungslabor in einem. Ganz analog wird das Foto entwickelt und fixiert. So wie es ab den 1920er Jahren viele Straßenfotografen beruflich getan haben. Es ist das absolute Gegenkonzept zur digitalen Handy-Kamera mit perfekten Fotos in Sekundenschnelle. „Mich fasziniert halt alte Technik“, sagt Schlagenhaufer, der die Kamera selbst gebaut hat.
Der erste Kontakt mit der Camera Minutera
Kennengelernt habe ich den Fotografen in diesem Frühjahr in München in der örtlichen Volkshochschule. Fünf Leute haben sich zu einem Workshop versammelt, im Programmheft stand: „Camera Minutera, die Sofortbildkamera der 1920er Jahre“. Weil mich alte analoge Großformatfotografie interessiert und ich noch nie davon gehört hatte, habe ich den Kurs gebucht. Im Unterrichtsraum hat Sebastian Schlagenhaufer seine Utensilien aufgebaut: Einen Wassereimer. Entwicklungschemikalien. Eine Leuchte. Fotopapier. Und ein merkwürdiges hölzernes Teil, das aussieht wie der Deckel einer alten Nähmaschine. Später stellt sich heraus, dass es wirklich einmal der Deckel einer Nähmaschine war – nur dass Schlagenhaufer vorne einen Verschluss angebracht hat, um daraus seine ganz persönliche Camera Minutera zu bauen.
Eigentlich lebt Sebastian Schlagenhaufer mit Frau und Kindern in Grafing, einer kleinen Gemeinde im Münchner Umland. Beruflich steht er auf der Bühne, macht Kabarett und Musiktheater, hat ein eigenes Stück geschrieben. Als Corona kam, konnte er plötzlich nicht mehr auftreten und ging seiner Familie zu Hause auf die Nerven. „Dann geh doch nach Italien“, sagten seine Freunde – schließlich ist es sein Lieblingsreiseland. Bevor er sich auf den Weg nach Siena machte, hat sich Schlagenhaufer ein wenig vorbereitet. Und dabei stieß er, der sich seit 20 Jahren mit analoger Fotografie beschäftigt, auf das vergessene und versunkene Thema Camera Minutera. Auch in den italienischen Städten war diese frühe Sofortbildkamera ab 1920 im Einsatz, in Afghanistan und der Türkei sogar bis in die 1980er Jahre. Heute hat sich zwar wieder eine kleine internationale Szene zu dieser Art der Fotografie herausgebildet, aber insgesamt ist sie fast komplett in Vergessenheit geraten.
Kamera Marke Eigenbau
Blick ins Innere der Camera Minutera. Im Boden: die Behälter für Entwickler und Fixierer.
© Rudolf StumbergerEin wichtiger Grund dafür ist, dass sie nicht industriell, sondern in Handarbeit angefertigt wird. Auch Schlagenhaufer hat seine beiden Kameras selbst gebaut. Die eine ist aus dem bereits erwähnten Nähmaschinendeckel entstanden, die andere war früher das metallene Gehäuse eines Eichgeräts für Stromzähler. Ein schwarzer Kasten, 45 Zentimeter lang, Gewicht an die sieben Kilogramm. Nimmt man den vorderen Deckel ab, kommt ein Zeiss-Objektiv mit 150 mm Brennweite und einem Compur-Verschluss zum Vorschein. Nimmt man den hinteren Deckel ab, blickt man in das Innere der Sofortbildkamera. Und wie die funktioniert, dass soll ich jetzt hier im Workshop herausfinden und üben.
Dazu macht es Sinn, sich das grundlegende Konzept zu veranschaulichen. Die Kamera ist im Grunde eine normale Großbildkamera im Format 9 x 13. Nur dass im Inneren der Kamera zusätzlich zwei Behälter untergebracht sind, in denen sich der Entwickler und das Fixierbad befinden. Und weil sich das Ganze natürlich im Dunkeln abspielen muss, ist die Kamera zugleich auch ihre eigene Dunkelkammer!
Jedes Foto buchstäblich echte „Handarbeit“
Damit es drinnen dunkel bleibt, führt der Fotograf seinen Arm über eine Lichtschleuse in die Kamera ein, eine Art Strumpf oder Schlauch, der auf der rechten Seite angebracht wurde. Und genau das muss ich nun üben. Zuerst öffne ich den hinteren Deckel der Camera Minutera. Die Mattscheibe ist auf einem Schlitten montiert, sie kann über das Drehen eines Rades scharf gestellt werden. Die beiden Tanks sind mit den Chemikalien gefüllt. Im hinteren Deckel befindet sich auch der lichtdichte „Safe“ mit dem Fotopapier, und er sollte ebenfalls im Dunkeln befüllt werden. Deckel zu, und dann geht es ins Innere der Kamera. Ich stecke meinen rechten Arm in den Schlauch und taste in der Kamera mit der Hand herum. Das ist alles andere als einfach. Man muss den Safe ertasten, das Fotopapier herausnehmen, den Safe schließen. Dann das Fotopapier an der Mattscheibe anbringen. Arm wieder raus, den zu fotografierenden Kunden anlächeln und den Verschluss öffnen. Aber wie lange überhaupt? Ich schaue Schlagenhaufer fragend an. „Das sind Erfahrungswerte, und es hängt immer von den Lichtverhältnissen ab“, sagt er. Am besten mache man ein Probefoto, um auf der sicheren Seite zu sein. Mit drei Sekunden Belichtungszeit zum Beispiel.
Jetzt kommt der entscheidende Prozess. Also Arm wieder rein und nach dem Fotopapier auf der Mattscheibe fühlen, abnehmen und in den Entwickler stecken. Nach 90 Sekunden herausnehmen und für 30 Sekunden in das Becken mit dem Fixierer tauchen. Und dann den Deckel der Kamera öffnen, das Bild herausnehmen, und ab damit in den Wassereimer. Doch damit ist das Foto noch nicht fertig, denn wir erhalten so nur das Negativ. Das wird mit der Kamera dann noch einmal abfotografiert und der Prozess wiederholt. Erst so entsteht ein Positiv. Rund zehn Minuten dauert es, bis das Bild schließlich fertig ist.
Entwicklungsprozess einer Camera Minutera in Bildern
Mit der Camera Minutera als Straßenkünstler in Siena
Und wie war das jetzt, damals in Siena? „Das war eine super Zeit!“, erinnert sich Schlagenhaufer. Mit seiner Nähkastenkamera hat er sich auf den Marktplatz gestellt und Touristen fotografiert – für zehn Euro pro Foto. Freilich nicht ohne sich vorher bei den Behörden eine Genehmigung geholt zu haben, als „Artista di strada“, also als Straßenkünstler. Der leidenschaftliche Künstler und Hobbyfotograf, der auch Straßenmusik macht, hatte so ein neues Metier gefunden. Mit am spannendsten sei der Kontakt mit den Leuten und deren Verhalten gegenüber der Kamera: Deutsche Touristen waren ein bisschen vorsichtig, die Amerikaner sehr offen, die Italiener äußerst warmherzig und interessiert. Die Reaktionen des Publikums reichten von Staunen bis zur Ungläubigkeit. Ob er nicht doch was Digitales in seinem Holzkasten habe. „Viele haben keinen Bezug mehr zur analogen Fotografie“, meint Schlagenhaufer, und die Technikbegeisterten wollten genau verstehen, was hier passiert. Aber: „Alle haben sich gefreut, wenn sie das fertige Bild in der Hand hatten.“ Zum Beispiel die Mitarbeiter der Bar „Il Battistero“, wo der Fotograf seinen Espresso getrunken hat. Schließlich hat er die ganze Crew fotografiert, und das Bild hängt jetzt dort über dem Tresen.
Wieder zurück nach München und zu meinem Camera-Minutera-Workshop. Am Ende habe auch ich ein Bild von mir in der Hand; die Teilnehmer haben sich gegenseitig fotografiert. Technisch perfekt ist das Foto sicher nicht geworden, eher ein bisschen blass. Aber das ist ja auch der Reiz an dieser Art der Fotografie. Sie ist ein Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes. Mit allen Fehlern, aber auch mit der Aura des Unikats.
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